Phoboros

Phoboros

Diese Märchenadaption von „Die Schöne und das Biest“ habe ich für eine Anthologie verfasst, dann aber für nicht gut genug befunden und verworfen. Hier kannst du sie trotzdem lesen. Sag mir gerne, was du denkst!

E I N S

Miras Lippen bewegten sich lautlos beim Lesen des Zauberbuchs. Sie fuhr die Buchstaben nach und formte die Zeichen. Wind kam auf, die Luft knisterte. Plötzlich – ein Knall. Mira quietschte und stürzte vom Hocker.

„Allmächt‘ger, was treibst denn?“ Gustav kam in den Verkaufsraum geeilt und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wie ist das passiert?“ Sein schütteres Haar geriet in Unordnung, als er die Brille hinaufschob und die heruntergefallenen Bücher in die Regale zurückschob.

„Tut mir leid, Papa. Ich hab nicht geglaubt, dass in Newtons Principia wahrhaftige Magietheorie steckt! Wie schade, dass wir keine Originalausgabe haben.“

Kopfschüttelnd kratzte Gustav sein Bäuchlein. „So einen Schatz könnte sich unsere kleine Buchhandlung niemals leisten.“

Mira seufzte.

Die Glocke über der Tür ertönte und unterbrach die Aufräumarbeiten.

„Oh, Kundschaft?“ Gustav tastete nach seiner Brille, was sein Haar noch mehr in Unordnung brachte. „Das muss Frau Pusilski sein. Ihre Ausgabe von Die Magier Seiner Majestät wartet seit einer Woche auf sie.“ Er umrundete das Regal zwischen ihm und der Tür.

Mira schauderte plötzlich. Ein eiskalter Windhauch brachte die Buchseiten zum Rascheln, das elektrische Licht flackerte. Plötzlich ergriff eine existenzielle Furcht von ihr Besitz – eine eisige Klammer schloss sich um ihren Brustkorb, als müsse sie gleich sterben. Sie sank zu Boden.

„Nein! Bitte! Tu mir nichts!“, jammerte Gustav.

Papa! Mira nahm ihren Mut zusammen und stolperte zur Tür. Vor ihr stand eine Gestalt wie hundert flackernde Schatten. Ein Mann vielleicht, in einen schwarzen Mantel gehüllt, trotz des milden Maiwetters mit Eiskristallen überzogen. Die Kälte zerrte an Mira, ließ ihren Atem gefrieren und drohte, ihre Seele zu verschlingen. „Verschwinde!“ Sie warf sich über Gustav, der ohnmächtig am Boden lag.

Der Mann streckte die Hand nach ihnen aus und von Gustav löste sich ein zitterndes Leuchten.

„Lass das!“ schrie Mira. Obwohl das Blut in ihren Ohren rauschte und die Furcht sie beinahe blind werden ließ, schlug sie den Mann.

Er hielt inne und richtete seinen Blick auf sie. Sie meinte, unter den Schatten, die ihn umgaben, ein Gesicht zu erkennen. Überraschung stand darin. Wieder deutete er, doch diesmal nur auf sie. In ihrer Panik stieß Mira die Hände in die Luft und stieß die Zauberworte aus, die sie eben in dem Buch gelesen hatte, und formte die Gesten. 

Wieder knallte es. Der Windstoß blies für einen Augenblick die Schatten fort und sie erhaschte einen Blick auf das ganz und gar Menschliche darunter.

Vor einem Menschen fürchte ich mich nicht.

Sie sprang auf und versperrte dem Fremden den Blick auf ihren Vater. „Hau ab!“, rief sie so laut sie konnte.

Der Mann zögerte. Die Schatten schlossen sich wieder. „Ja, das könnte funktionieren“, murmelte er. Bevor Mira reagieren konnte, berührte er ihre Stirn und sagte: „Schlaf.“

Z W E I

Mira fuhr auf. Sie lag in einem Himmelbett, tief in die Matratze eingesunken, unter weißen Leinen, und trug ein Seidennachthemd. Sie atmete heftig, versuchte, sich ein Bild von ihrer Lage zu machen und einzuordnen, was geschehen war. Sie schlang die Arme um sich und sah sich um. Niemand da. Gut. Behutsam schob sie die nackten Füße über den Bettrand, ließ sich auf den Teppich gleiten und tapste zum Fenster. Zartes Sonnenlicht fiel durch Glas und Gardinen auf ihr Gesicht. Etwa zehn Meter unter ihr lag ein verwilderter Garten mit einem leeren Springbrunnen, in dessen Mitte eine Statue thronte. Im Kamin brannte ein Feuer, doch trotz Maiwetter wohnte Eiseskälte in den Wänden. Mira wollte durch die Zimmertür hinaus, doch ein Flüstern ließ sie innehalten. Mit dem Ohr am Holz lauschte sie.

„Doch, doch, es wird funktionieren, ich fühl’s genau.“

„Ach, papperlapapp! Hast du sie gesehen? Ein gewöhnliches Mädchen, keine dreißig Lenze, mittelgroß, mittelhübsch, mittelschlau, braune Haare, braune Augen, braune Hose, so magisch wie eine Klosterschülerin und trotzdem sicher keine Jungfrau mehr. Das einzige Prinzessinnenhafte an ihr der Arielle-Aufdruck auf ihrem Pullover.“

„Püh! Das mit dem mittelhübsch ist deine Meinung und mittelschlau weißt du nicht. Außerdem ist Braun das neue Blau und sie muss ja keine Prinzessin sein, sondern sich nur in ihn verlieben.“

„Wird nicht passieren.“

Mira riss die Tür auf. Kreischend stoben zwei geisterhafte Gestalten auseinander. „Wird sowas von nicht passieren!“, rief sie den Flur hinunter. „Ihr Entführer, ihr! Lasst mich sofort frei!“ Sie lief hinaus und auf eine große Freitreppe zu. „Und gebt mir meine Kleider zurück!“ Suchend sah sie in alle Richtungen, konnte jedoch niemanden entdecken. „Hey!“

„Dein Schrei könnte Tote erwecken.“ Die Stimme ließ Mira einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Als sie sich umdrehte, stand plötzlich der Schattenmann vor ihr. Sie giekste und sprang rückwärts, bevor sie ihm reflexartig eine Ohrfeige versetzte.

Er zuckte zusammen. Die Schatten wichen aus seinem Gesicht und gaben ein mildes Lächeln preis. „Du kannst dich im Haus frei bewegen und im Garten auch. Das Anwesen zu verlassen hingegen ist dir nicht erlaubt. Sieh dich in aller Ruhe um, all deinen Bedürfnissen soll Sorge getragen sein. Brauchst du etwas, so ruf einfach.“

Mira verschränkte die Arme. „Sie können mich hier nicht festhalten, Sie Schattenknilch! Lassen Sie mich gehen!“

Die Gestalt des Mannes strahlte so plötzlich eine derart intensive Kälte und Finsternis aus, dass Mira sich wimmernd auf den Boden warf. „Mein Name ist Arian“, sagte er. „Ich will dir nichts Böses. Äußere deine Wünsche, so extravagant sie seien, sie sollen erfüllt werden. Einzig zu gehen, steht dir nicht frei. Je eher du dich damit abfindest, desto leichter wird es.“ Damit verschwand er so plötzlich, wie er aufgetaucht war.

Mira fluchte. Schließlich rappelte sie sich auf und rief: „Na, schön, Herr Arian Schattenknilch, dann will ich auf der Stelle meinen Arielle-Pullover, die Cordhose und meine Chucks zurück!“

Es knisterte im Gebälk, Staub rieselte herab. Unsicher sah Mira sich um. Etwas huschte vorbei, noch einmal und noch einmal und plopp, lagen ihre Sachen vor ihr. Mit einem Grummeln hob sie alles auf und ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Dort wartete ein kleiner gedeckter Frühstückstisch neben dem Kamin. Wieder angezogen, begutachtete Mira die Auswahl und stellte überrascht fest, dass jemand ihr Vorlieben kannte: duftende Croissants, Erdbeermarmelade und eine heiße Schokolade. Sie setzte sich und frühstückte mit mulmigem Gefühl, aber mehr Appetit als erwartet. Ob es ihrem Vater gut ging? Bestimmte sorgte er sich sehr. Wo war sie hier hineingeraten? Und warum?

Das zumindest sollte sich herausfinden lassen. Sie wusch sich die Hände in der Wasserschale und trat hinaus, wild entschlossen, ihr Gefängnis zu erkunden.

D R E I

Das alte Herrenhaus erwies sich als charmant. In jedem Raum brannte ein Kaminfeuer, alle Betten waren frisch bezogen, alle Sofas luden zum Verweilen ein. Im Keller fand sie eine Großküche, in der ein Braten angerichtet wurde und Klöße in heißem Wasser lagen, von Küchenpersonal jedoch keine Spur. Im Erdgeschoss gab es einen Ballsaal, der dunkel und leer dalag. Als sie eintrat, sprangen Flammen auf allen Kerzenleuchtern an. Die Instrumente auf dem Podest erhoben sich und spielten zum Tanz auf. Mira aber war nicht nach Tanzen. Sie stöberte einen Teesalon auf, fand leere Bedienstetenschlafräume, ein prunkvolles Badezimmer mit einer Wanne epischen Ausmaßes , die sie mit ihren Blubberdüsen fast in Versuchung geführt hätte. Nein! Sie würde sich nicht einlullen lassen. Stattdessen erkundete sie den Ostflügel voll prächtiger Gästezimmer mit offenen Bereichen dazwischen, wo das Sonnenlicht Chaiselongues wärmte. Auf einem Tischchen standen Erfrischungen. Mira näherte sich und stellte verärgert fest, dass neben dem Glas Orangensaft ihre Lieblingsschokolade lag, dazu ein Schälchen mit Erdbeeren. Ihre Verärgerung wuchs, als jene Erdbeeren ihr köstlich und saftig auf der Zunge zergingen.

„Was soll das?“, rief sie in die Stille. „Ihr wollt mich beeindrucken? Könnt ihr vergessen!“

„Ich bin kein bisschen beeindruckt“, fügte sie leise murmelnd hinzu. Aß die Erdbeerschale leer, steckte die Schokolade ein und trank den Saft. Himmel, war der herrlich frisch! Sie stampfte mit den Fuß auf und rannte auf die riesige Flügeltür am Gangende zu. Raus hier, einfach raus! Sie stieß die Tür auf und erstarrte. Vor ihr lag die größte, edelste Privatbibliothek, die sie sich vorstellen konnte. Der Raum, rund, mit Kuppeldach, hohen Fenstern und vom Boden bis zur Decke nichts als Bücherregalen vollgestopft, sandte seinen Lockruf direkt in Miras Herz. Ehrfürchtig schlich sie hinein und nahm ein Buch aus dem Regal. Eine kurze Geschichte von fast allem. Wütend rief Mira in den Raum: „Ihr denkt, Bill Bryson würde mich beeindrucken? Tut er nicht!“ Sie zögerte, stellte das Buch jedoch zurück. Nächstes! Die Physik der Unsterblichkeit reihte sich an Der blinde Uhrmacher. „Ihr wollt mich doch veralbern!“, rief Mira. Sie umrundete das nächste Regal, ging schnurstracks zu den Wandregalen und stieg auf der Leiter bis ganz nach oben. Die Bücher hier waren uralte, ledergebundene Schinken. Sie zog eines heraus. Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica stand dort in goldenen Lettern. Fast wäre Mira von der Leiter gefallen. „Ja, leck mich doch am Ärmel! Isaac Newton in der Originalausgabe. Himmel, Arsch und Zwirn!“

Behutsam stellte sie das Buch wieder zurück, kletterte nach unten und setzte sich auf das Kanapee. Nachdenklich betrachtete sie das wuchernde Gestrüpp draußen vorm Fenster und die Bibliothek. „Verdammt“, murmelte sie. Wenn sie keine Gefangene wäre, würde sie sich wie im Schlaraffenland fühlen. So viel köstliche Gedankennahrung! Unschlüssig saß sie dort. Was sollte sie tun? Hatte sie das Zeug dazu, eine Originalausgabe von Newtons größtem Werk vor sich hin gammeln zu lassen, während sie sowieso nichts anderes tun konnte, als jede Zeile davon zu verschlingen, jedes Wort in sich aufzusaugen?

Nein. Als Gefangene hatte sie keine Wahl. Es ging nicht anders. Flink wieselte sie die Leiter rauf, holte das Buch und setzte sich.

Ein Luftzug wallte auf und eine Decke legte sich über ihre Beine. Auf dem Tischchen landete ein Tablett mit Tee und Keksen und der Plattenspieler in der Ecke verbreitete sanften Blues. Seufzend kuschelte sich Mira auf das Kanapee und las.

„Siehst du?“, erklang ein Flüstern. „Es funktioniert!“

Mira achtete nicht weiter darauf. Ihr Latein war schon etwas eingerostet, sie musste sich konzentrieren.

„Das wird sich zeigen“, kam die Erwiderung.

Mira schlug das Buch zu. „Kommt raus und erklärt es mir“, sagte sie.

Verschrecktes Rascheln.

„Na los, ich will’s verstehen!“

Keine Reaktion.

Wütend hielt Mira die Teetasse über die Principia Mathematica. „Redet, oder ich versaue sie!“

Ein Heulen ging durch den Raum. „Das würde sie nicht wagen!“, jammerte es.

Mira neigte die Teetasse.

Mehr Geheul.

Sie biss sich auf die Lippe. Ein Tropfen löste sich vom Rand der Tasse. Schnell richtete sie sie auf. „Ach, zum Teufel mit euch!“ Sie stellte die Tasse weg und bettete das Buch behutsam aufs Kanapee. Sie zitterte. Fast hätte sie eines der kostbarsten Bücher der Welt beschädigt. Sie presste die Hände auf die Brust und atmete tief durch. „Wenn ihr nicht mit mir reden wollt, dann lasst mich wenigstens in Ruhe lesen.“

Stille legte sich über den Raum, der Plattenspieler verstummte.

Grummelnd nahm Mira das Buch zur Hand und vertiefte sich.

Eine handschriftliche Ergänzung am Rand einer Seite erregte ihre Aufmerksamkeit: Resonanz ist der Schlüssel zu des Phoboros‘ Macht. Darunter eine mathematische Formel. Sie hatte gerade den ersten Teil entschlüsselt, als jemand behutsam an die Tür klopfte. „Herein, wenn’s kein Anwalt ist!“, rief Mira.

Die Tür öffnete sich und ein Stimme erklang: „Der Herr bittet um Eure Anwesenheit beim Abendessen.“

„Nö“, erwiderte Mira.

Ein Räuspern erklang. „Herrin, wenn Ihr nicht zum Abendessen erscheint, muss ich die Bibliothek verschließen.“

Mira rollte mit den Augen. „Ich find schon Beschäftigung.“

Die Tür schloss sich wieder und ein Klicken erklang. Mira hob den Kopf. „Warte!“ Sie sprang auf und rüttelte an den Türgriffen, hämmerte mit den Fäusten dagegen und schrie: „Das könnt ihr nicht machen! Lasst mich hier raus!“

„Kommt ihr dann zum Abendessen?“, erklang die Stimme.

„Zum Teufel mit euch!“, rief Mira.

„Es gibt Käsespätzle“, sagte die Stimme.

Mira zögerte.

„Mit Röstzwiebeln?“

„Selbstverständlich.“

„Und gemischtem Salat?“

„Ohne wäre ein Sakrileg.“

Erschöpft sank Mira an der Tür herab. „Na schön, ich komm.“

Die Tür sprang auf. „Hier entlang, Herrin“, sagte die Stimme und die Leuchter im Gang flammten auf.

V I E R

Mira folgte der aufflammenden Beleuchtung wie ein Flugzeug den Landebahnlichtern. Würde sie endlich erfahren, warum man sie hier festhielt? Wollte sie es überhaupt wissen? Was, wenn sie gemästet und verspeist werden sollte, wie in Hänsel und Gretel? Nein, das ergab keinen Sinn, nicht wahr? Hier musste es um etwas anderes gehen. Was hatten die Geister geflüstert? Sie solle sich verlieben? In wen? In den Schattenknilch? Niemals!

So in Gedanken versunken, prallte Mira gegen eine Wand aus Dunkelheit. Desorientiert sah sie sich um und bemerkte, dass die Beleuchtung an der Doppeltür zum Ballsaal endete. Diese öffnete sich und gab den Blick auf eine festlich geschmückte Tafel preis, auf der sich Köstlichkeiten stapelten. Der Hausherr saß auf einem Sessel am Kopfende, Mira wurde zum ihm gegenüberliegenden Platz dirigiert. Der Sessel wurde von Geisterhand abgerückt und auch wieder unter ihren Hintern geschoben. Der Hausherr wartete, bis sie sich zurechtgefunden hatte, und hob sein Weinglas. „Auf unerwartete Gesellschaft und die Freude an vergänglichen Momenten – möge die Hoffnung sich als wahr erweisen.“

Mira räusperte sich, hob ihr Glas und nickte. Die herrschaftliche Umgebung schüchterte sie mehr ein, als sie zugegeben hätte. Ein Teller Käsespätzle wurde vor ihr abgestellt. Mira blickte auf und für einen Moment glaubte sie, ein Gesicht zu erkennen, durchscheinend und blass, aber ohne Zweifel das einer Frau. Sie schluckte. Die Speise duftete so köstlich, dass sich Mira schmerzhaft ihres leeren Magens bewusst wurde. Sie schob die Gabel in die Spätzle, zartschmelzend lief der Käse daran herab. Gierig stopfte sie das Essen in sich hinein.

„Warum halten Sie mich gefangen?“, fragte sie, kaum dass sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte.

Arian schwieg, beobachtete sie lediglich unter halb geschlossenen Lidern, den Kopf lässig aufgestützt.

„Soll ich Eure nächste Geisterköchin werden? Da muss ich Sie enttäuschen, ich koche ganz scheußlich.“

Der Schattenmann schwieg weiter. Die Schatten hatten sich zurückgezogen, sodass sie sein Gesicht erkennen konnte: ebenmäßige Züge, ein markantes Kinn und langes, schwarzes Haar. Widerwillig stellte Mira fest, dass er, objektiv betrachtet, ausgesprochen gut aussah. „Hör mal, ich weiß nicht, was du willst, aber daraus wird nichts! Wenn ich was gegen meinen Willen tun soll, werd ich zum Tier!“

Ein Schmunzeln lag auf seinem Gesicht. „Eure, Sie, du, welche Anredeform nehmen wir nun?“

Mira fasste die Gabel fester. „Welche auch immer mir gefällt.“

Arian wurde wieder ernst. „Ich werde dir nichts tun.“

Sie glaubte ihm. Warum, konnte sie selbst nicht sagen, aber irgendetwas an der ganzen Situation vermittelte ihr das Gefühl, dass er ihr entweder nichts tun wollte – oder es gar nicht konnte. Dennoch sagte sie: „Du hältst mich wohl für doof!“

„Ganz im Gegenteil.“ Er richtete sich auf und faltete die Hände. „Ich halte dich für außerordentlich klug. Und mutig.“

Gegen ihren Willen kroch Mira die Hitze in die Ohren.

„Deshalb bist du hier. Nimm dir vom Reichtum dieses Hauses alles, was du willst. Sprich jeden Wunsch aus und er soll erfüllt werden. Du sollst dich behütet und versorgt fühlen.“

Sie runzelte die Stirn. „Um mich träge zu machen? Damit ich meine Wachsamkeit fallen lasse? Und Ihr mich … überwältigen könnt?“

Wie ein Blitz verschwand der Schatten aus dem Sessel und tauchte dicht vor Mira wieder auf. Sie stieß einen Schrei aus und wäre fast nach hinten umgekippt, doch Arian packte ihre Handgelenke und hielt sie fest. Er brachte sein Gesicht dicht vor ihres. Seltsamerweise sah sie dadurch viel weniger davon als gerade eben noch in zehn Metern Entfernung. „Wenn ich dich überwältigen wollte, hätte ich es längst getan.“

Weiß ich doch, weiß ich doch, warum kannst du nicht einmal die Klappe halten, Mirabelle Jasmin Wolperstorf!?

„Würdest du das bitte anerkennen?“ Arians Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Sie nickte hastig.

Er ließ sie los. „Gut. Dann ist die Tafel hiermit aufgelöst.“ Er richtete sich auf. „Von jetzt an wirst du mir jeden Abend Gesellschaft leisten. Alles andere steht dir frei.“

„Gibt’s hier ein Telefon?“, fragte Mira.

„Kein Kontakt zur Außenwelt“, erwiderte Arian. Die Schatten verschlangen ihn und Mira konnte ihn gerade noch den Raum auf der anderen Seite verlassen sehen.

„Ich werde mich nicht in Sie verlieben!“, rief sie.

„Warum so abweisend?“, erklang die Geisterstimme traurig. „Er gibt sich wirklich Mühe!“

„Er hat mich entführt!“ Mira sprang auf und stieß die Fäuste gen Boden.

„Wärst du denn freiwillig mitgekommen?“

„Natürlich nicht!“

Schweigen.

Mira schnaufte. „Vielleicht. Weiß nicht. Wenn er nett gefragt hätte und mir erklärt, was er will.“

„Er ist verflucht“, sagte die Geisterstimme. „Wir alle sind es.“

„Ja, soweit war ich auch schon, besten Dank!“ Mira verschränkte die Arme. Ein Fluch also? Daran hätte sie vielleicht als drittes oder viertes gedacht. „Er wirkt gar nicht verflucht.“

„Aber er ist verflucht gut aussehend, gell?“, sagte eine andere Stimme links von der ersten.

„Jorge, sei still“, sagte die erste Stimme.

„Was du darfst mit der Gästin reden und ich nicht? Ich bin auch neugierig, Emma!“

Mira rieb sich über die Stirn. „Okay, hier ist der Deal: Ihr erzählt mir, was hier los ist und im Gegenzug werde ich nicht schreien.“

„Ha!“ Jorge rauschte heran, seine Gestalt fast sichtbar. „Denkst du, Schreien würde uns etwas ausmachen? Hier wird den ganzen Tag geschrien, alle Opfer schreien immer zu! Oh nein, bitte tu mir nichts, oh, ah, Hilfe, Hilfe.“ Jorge klang gänzlich unmotiviert, trotzdem brach Mira der kalte Schweiß aus.

Emma huschte an seine Seite und versetzte ihm eine Kopfnuss. „Aua!“, jaulte er.

Inzwischen konnte sie die beiden Geister gut erkennen, eine Frau mit mittelalterlichem Kleid und Häubchen, und ein Mann mit knielangen Hosen und einer marineblauen Weste.

„Hör auf, ihr Angst einzujagen.“ Emma schwebte heran und rang die Hände. „Du bist unsere einzige Hoffnung, Mädchen. Wenn du dich nicht in Herrn Arian verliebst, werden wir für immer die Gefangenen des Phoboros sein.“

Mira runzelte die Stirn. Das hatte sie schon mal gehört. Nur wo? „Phoboros?“

„Ein mächtiger Dämon, viele tausend Jahre alt. Einst verfluchte er unseren Herrn und sein ganzes Personal. Seither muss er jede Nacht durch die Stadt streifen und Gefühle sammeln, je finsterer, desto besser, und sie für den Phoboros in einem Kristall aufbewahren. Einmal im Jahr, an Allerheiligen, wenn der Schleier zwischen den Welten am dünnsten ist, kommt er und holt sie.“

Mira atmete tief durch. „Und wie lange geht das schon so?“

„Bei dreihundert haben wir aufgehört zu zählen.“ Jorge klang zerknirscht.

„Dreihundert? Der Typ ist also uralt? Ihr alle seid uralt?“

„Alter ist nur eine Zahl“, sagte Emma.

Mira schnaubte. „Is klar, ne.“ Sie tigerte auf und ab. „Und was ist mit dem Verlieben? Was soll das bringen?“

„Es ist dir sicher nicht entgangen, dass unser Herr sehr … furchteinflößend ist“, sagte Emma.

„Ach was.“ Mira verschränkte die Arme.

„Liebe ist das reinste aller Gefühle. Es ist so mächtig, dass der Phoboros daran ersticken würde, wenn der Kristall damit statt mit Furcht gefüllt wäre“, dozierte Jorge.

„Aber muss ich denn ihn lieben? Ich meine, ich liebe Bücher und ihr habt Hammerbücher hier, also …“

„Oh, nein! Arian müsste diese Liebe empfangen, denn nur er kann den Kristall füllen.“ Emma schwebte heran und sah Mira flehentlich an. „Willst du es nicht wenigstens versuchen? Wenn nicht um seinetwillen, dann um all der Menschen willen, die jede Nacht Furcht und Verzweiflung erleben?“

Mira legte die Stirn in Falten. „Aber man kann sich doch nicht auf Kommando verlieben! Und, nun ja … er ist ziemlich gruselig.“

„Aber du hattest keine Furcht! Hast sie ihm verweigert, als er danach griff. Nur die allermutigsten Menschen sind dazu in der Lage. Nur jemand wie du, kann durch seine Fassade blicken und seinen wahren Kern erkennen. Und dann wirst du dich ganz gewiss in ihn verlieben!“ Emma strahlte.

Mira verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Also schön. Es wäre eine gute Tat. Er hat ‘ne schicke Bib, das ist ein Plus, und du machst feine Kasspatzen. Also man kann’s schon aushalten hier.“

Emmas Strahlen wurde immer breiter.

„Aber muss ich für immer ganz allein bei ihm und euch bleiben? Ich glaube nicht, dass ich ohne Papa glücklich sein könnte. Oder meine Freunde.“ Mira seufzte tief.

Emma und Jorge tauschten Blicke. „Nein“, Emma schwebte ein Stück an ihr vorbei, „es wäre nicht für immer. Genau genommen muss es vor Allerheiligen geschehen, sonst …“

Mira kniff die Augen zusammen. „Sonst was?“

Wieder tauschten die beiden unbehagliche Blicke.

„Sonst wirst du sterben“, flüsterte Jorge. „Wenn der Phoboros zurückkehrt und dich hier findet, frisst er dich.“

Emma berührte Mira an der Schulter, der ein eiskalter Schauer über den Rücken jagte. „Aber dazu wird es nicht kommen, wenn du dich in Arian verliebst.“ Sie lächelte. „Und das hast du ja vor, nicht wahr?“

Mira starrte auf den hinteren Ausgang, durch den Arian verschwunden war, und nickte.

F Ü N F

Eine Woche lang hatten Mira und Arian jeden Tag zu Abend gegessen. Eine schreckliche, lange Woche, in der sie tagsüber ruhelos umhergestreift und schon deutlich vor der Essenszeit am Ballsaal gewesen war. Emma hatte versucht, sie aufzumuntern, doch Mira wich ihr aus, wo immer es ging. Sie musste nachdenken, und das konnte sie am besten allein.

Ein Monat zog ins Land und Mira gewöhnte sich an Arians Gegenwart. Je mehr sie sich auf das Gesicht hinter den Schatten konzentrierte, desto mehr wurde es ihr vertraut.

„Was ist deine Lieblingsfarbe?“, fragte sie ihn eines Abends.

Er schwieg lang, bevor er sagte: „Ich weiß nicht. Was ist deine Lieblingsfarbe?“

„Weich nicht aus. Es ist eine einfache Frage.“ Mira rutschte unruhig auf ihrem Sessel umher.

„Nun gut. Braun, denke ich.“ Arian lehnte sich zurück und verschränkte die Finger.

„Braun wie mein Haar, meine Augen und meine Cordhose, ja? Wie praktisch.“ Sie ließ sich gegen die Lehne fallen und verschränkte die Arme.

„Braun wie die Erde, die uns trägt, wie das Fell eines Pferds, das in Freiheit galoppiert, wie Schokoladenpudding, der köstlichste Nachtisch der Welt.“

Nachdenklich betrachtete Mira ihren Gastgeber. Ihr Verstand sagte ihr, dass statistisch gesehen die Mehrzahl der arrangierten Ehen wunderbar funktionierte, weil die Grundlage einer Beziehung nicht Verliebtheit sondern der Willen zur Zusammenarbeit war. Warum sollte ihr das nicht gelingen? Welchen Unterschied machte es, ob das Schicksal oder die Gesellschaft eine Ehe arrangierte? Sie biss sich auf die Lippe. „Möchtet Ihr …“ Sie zögerte. „Möchtest du Gesellschaft. Heute Nacht?“ Ihre Wangen glühten.

Arian wirkte verblüfft. „Ist das wirklich dein Wunsch?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Mira nickte stumm.

Arian stand auf, umrundete den Tisch, nicht als Schattenwoge, sondern ganz und gar physisch. Je näher er kam, desto mehr wuchs die Furcht in Mira. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Sie hatte ihr schon einmal getrotzt, sie konnte es immer wieder tun. Mühsam hob sie die Lider und sah ihn an, wie er vor ihr stand, seine finstere Aura so viel größer als er selbst, das Zerren der Furcht so viel stärker als vom anderen Ende des Tisches. „Bist du sicher?“

Mira packte die Armlehnen des Sessels und schoss in die Höhe. Ihre Knie waren so weich, dass sie wankte. „Ja“, sagte sie, nicht so fest wie erhofft.

Er nickte und reichte ihr die Hand. „Dann komm.“

Arian führte sie in einen Bereich des Hauses, der offenbar nur durch die hintere Tür des Ballsaals zu erreichen war. Mira spürte ihr Herz unangenehm in der Kehle klopfen. Sie hielt seine Hand, als wäre sie ihr Anker in stürmischer See. Am Ende des Ganges lag ein Schlafzimmer. Das Licht flammte auf, als sie eintraten, und schälte ein Himmelbett, eine Sitzecke am Kamin und einen Waschtisch aus der Finsternis. Obwohl ein Feuer brannte und draußen Hochsommer war, schien die Kälte sich in diesem Raum festgesetzt zu haben. Arian ließ sich in einen der Sessel fallen und deutete auf den anderen. Mira setzte sich auf die vorderste Kante und faltete die Hände im Schoß.

„Möchtest du einen Tee?“, fragte Arian.

Mira schüttelte den Kopf.

Er sah sie lange an. „Möchtest du ins Bett gehen?“

Sie zog die Schultern hoch und nickte.

Er winkte ihr. „Dann bitte, es gehört dir.“

Mira sah auf. „Und … du?“

Er lächelte. „Ich wache über deinen Schlaf.“

Mira zögerte. Das war nicht, was sie erwartet hatte. Doch spürte sie eine solche Erleichterung dabei, dass sie schnell unter die Decke schlüpfte und die Augen schloss.

Die Furcht in ihrem Inneren legte sich nach und nach.

Er ist wirklich kein schlechter Kerl, dachte sie und schlief ein.

S E C H S

Am Abend des ersten Herbstmonds kehrten Mira und Arian von einem ihrer zahlreichen, gemeinsamen Spaziergänge durch den Garten zurück. „Der Springbrunnen“, sagte Mira auf einmal, „warum lassen wir ihn nicht herrichten? Weg mit dem Unkraut, die Pumpe reparieren und Seerosen hinein für klares Wasser.“

Arian nickte. „Klingt gut.“

Mira stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. „Überhaupt könnte man hier viel machen.“ Sie deutete auf einen Flecken Giersch. „Dort würden sich ein paar Rosenbüsche schön machen. Rote und weiße, passend zur düsteren Herrenhausromantik.“ Sie warf ihm ein neckisches Grinsen zu.

Lächelnd wich Arian ihrem Blick aus. Die Schatten lagen wie ein Mantel um seine Schultern, sein Gesicht unverhüllt.

Mira drehte sich im Kreis. „Etwas Farbe vielleicht, wie eine Wildblumenwiese – wir hätten so viele Bienen und Schmetterlinge!“ Sie schlenderte umher und sah zur untergehenden Sonne. „Da hinten, wo die Sonne am längsten hin scheint, wär‘s ideal für einen Pavillon.“ Sie fasste Arian beim Arm. „Dann könnte man Tee im Garten haben, wär das nicht schön?“

„Ja.“ Arians Lächeln wurde breiter, sein Blick dabei trauriger.

„Was ist?“, fragte Mira.

Er schüttelte nur den Kopf.

Auf dem Weg zur Küchentür sagte Mira: „Hier muss ein Kräutergarten hin. Mit frischer Minze oder Rosmarin oder … sowas eben. Emma fällt bestimmt was ein.“

Arian nahm ihre Hand und streichelte sie. „Die Furcht“, sagte er, „spürst du sie noch?“

Mira schluckte. „Ein wenig“, erwiderte sie.

Er ließ die Schultern hängen.

Behutsam berührte Mira seine Schultern.

Arians Augen weiteten sich. „Was tust du?“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Schatten wallten auf und umhüllten sie beide.

Furcht entflammte in Miras Eingeweiden und ließ sie sich zusammenkrümmen.

Als hätte er sich verbrannt, wich Arian zurück. „Es tut mir leid“, flüsterte er und verschwand.

„Warte!“, rief Mira, doch ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Sie presste die Hände vor die Brust und versuchte ihr wild hämmerndes Herz zu beruhigen. Erschöpft wie nach einem Marathon, ließ sie sich auf die Bank neben der Küchentür fallen. „Nachts könnte man den Garten mit Lampions schmücken,“ murmelte sie. Ihr Blick ging in die Ferne. „Ein kleiner Teich mit Fischen wäre schön. Oder Fröschen.“ Die Panik ebbte ab und ihr Herzschlag normalisierte sich. Sie atmete tief durch und ging zum Ballsaal. Abendessenszeit. Der Tisch war schon gedeckt, die Instrumente spielten, die Leuchter brannten. Mira setzte sich auf ihren Platz und wartete. Und wartete. Irgendwann brachte Emma eine Kastaniensuppe, die nach Trüffelöl duftete. Mira sah zum leeren Platz am anderen Ende der Tafel. „Kommt er nicht?“

Emma schwieg.

Betrübt aß Mira ihre Suppe, Emma brachte einen Schweinebraten. Lustlos stocherte Mira im Pastinakenpüree herum und sah immer wieder zu Arians Platz. Er blieb leer.

Als Emma einen Schokoladenpudding brachte, sprang Mira auf und lief durch den anderen Ausgang hinaus zu Arians Schlafzimmer.

Die Tür war verschlossen. „Lass mich rein!“, rief Mira und hämmerte dagegen.

Nichts geschah.

Wütend stampfte sie hinaus in den Garten und lief ums Haus, bis sie das Fenster zum Herrenschlafzimmer fand. Sie packte den Fenstersims und zog sich daran hoch. Die Zehen in die Wand gepresst, strampelte sie so lange, bis sie sich hinauf gehievt hatte. „Arian!“, rief sie und hämmerte gegen die Scheibe. Im kargen Licht des heruntergebrannten Kaminfeuers sah sie ihn im Sessel sitzen, die Beine ausgestreckt, das Gesicht aufgestützt. Er wandte ihr den Blick zu, müde, voll endloser Traurigkeit, und wandte sich wieder ab.

„Arian!“ Mira schlug mit Wucht gegen die Scheibe, verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten weg. „Aah…!“ Sie ruderte mit den Armen. Vergeblich, schon kippte sie nach hinten weg. Die Augen weit aufgerissen, stürzte sie – direkt in Arians Arme.

Sanft hielt er sie fest. „Was tust du nur?“

„Was tust du nur?“, fragte sie mit so viel Wut in der Stimme, dass er zusammenzuckte. Sie legte die Arme um ihn, während er sie auf den Boden herunterließ und sah ihm fest in die Augen. „Warum warst du nicht beim Abendessen?“.

„Es hat keinen Sinn“, erwiderte er. „Du gibst dir solche Mühe, aber es ist aussichtslos. Die Aura des Schmerzes und der Furcht lässt sich nicht überwinden, nicht einmal von dir.“

Mira runzelte die Stirn. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Arian hielt sie sacht bei der Hüfte, ihre Brust lag an seiner. Doch seine Lippen schmeckten nach Kupfer und Asche und mit jedem Sekundenbruchteil, den die Berührung dauerte, zog sich ihr Inneres zusammen. Keuchend löste sie sich von ihm und sank auf die Knie. Die Kälte in ihrem Magen schien das Pastinakenpüree in scharfkantige Eisklumpen zu verwandeln. Sie wimmerte.

„Es tut mir leid“, flüsterte Arian. „Was für ein törichter Traum.“ Sein Blick lag voller Sehnsucht auf ihr. Kopfschüttelnd machte er eine Handbewegung. Hinter Mira sprang die kleine Gartenpforte mit dem singenden Ton brechender Magie auf. „Du bist frei“, sagte Arian mit brüchiger Stimme und verschwand.

S I E B E N

Mira starrte die Decke über ihrem Bett an. Einige der fluoreszierenden Sterne leuchteten noch, obwohl sie schon vor Stunden das Licht ausgeschaltet hatte. Wie lächerlich. Mit fast dreißig wohnte sie noch im Zimmer, in dem ihre Mutter über der Kinderwiege diese Sterne aufgeklebt hatte. Aber es war eines der wenigen Dinge, die Mira fortwährend an sie erinnerten, so hatte sie es nie fertiggebracht, sie abzunehmen. Mira zog die Bettdecke zur Nasenspitze. Vier Monate war sie fort gewesen und doch fühlte sie sich wie ein Fremdkörper in ihrem Kinderzimmer.

Kinderzimmer! Ich bin doch kein Kind mehr!

Nie zuvor war ihr so schmerzhaft bewusst gewesen, wie sehr sie es sich in der Rolle der braven Tochter bequem gemacht hatte. Es war auch zu praktisch, keine Miete zu zahlen, tagtäglich bekocht zu werden und im väterlichen Buchladen zu arbeiten. Ihrem eigenen kleinen Reich, wo sie neben Klassikern und Bestsellern so viele okkulte und esoterische Bücher ausstellen konnte, wie sie wollte. Mira tat einen langgezogenen Seufzer und zog die Decke über den Kopf.

„Ist alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte Gustav.

Mira zuckte zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass er dort im Sessel saß und über ihren Schlaf wachte.

„Papa, geh schlafen, ich bin erwachsen. Ich brauch niemanden, der nachsieht, ob das Monster unter dem Bett seine Zähne geputzt hat.“

„Aber …“

„Geh! Schlafen!“

Mira warf sich herum und zog das Kissen über den Kopf. Trotzdem hörte sie seine zarten Trippelschritte und das Klicken der Tür.

Armer Papa. Er meint es doch nur gut.

Obwohl Mira irgendwann einschlief, fand sie keine Ruhe. Nicht beim Frühstück, nicht beim Sortieren der Regionalkrimis, nicht beim Nachmittagstee, und ganz besonders nicht als sie wieder im Bett lag. Sie warf sich nach links und dachte daran, wie sie versagt hatte, warf sich nach rechts und ärgerte sich, dass sie sich als Versagerin ansah und nicht als Opfer einer Straftat, der sie nur knapp entronnen war. Sie hatte versagt und ihr Vertrauen enttäuscht, Arians, Emmas, Jorges. Gut, Arian hatte sie entführt, darüber musste sie bei Gelegenheit noch ein ernstes Wörtchen mit ihm reden, aber hätte sie an seiner Stelle anders gehandelt?

Es wurmte sie, dass er sie überschätzt hatte. Nie hatte sie jemand stark oder mutig genannt. Dabei wollte sie es so gern sein.

„Die Quittung, bitte“, sagte Frau Pusilski.

Mira sah auf. Wie lange stand sie schon hinter der Theke, in ihre kreisenden Gedanken verstrickt? Seufzend druckte sie die Quittung. Pusilski sah sie mitfühlend an. „Schade, dass es nicht geklappt hat.“

Mira hob die Augenbrauen. „Was?“

„Der Umzug. Ich finde es sehr löblich, dass du deinen Vater unterstützt, aber ein junger Mensch muss doch ein eigenes Leben haben.“ Frau Pusilski drückte Miras Hand. „Woran ist es gescheitert?“

„Ich konnte die Furcht nicht überwinden“, murmelte Mira.

Frau Pusilski nickte verständnisvoll. „Das macht nichts. Versuch es einfach nochmal.“

„Geht nicht. Es gibt kein Zurück.“ Mira ließ die Schultern hängen.

„Ach, was! Eine Tür schließt sich, eine andere öffnet sich, so ist das im Leben. Manchmal müssen wir kreativ werden, um unsere Ziele zu erreichen.“ Sie tätschelte Miras Hand. Das Licht flackerte und das Glöckchen über der Ladentür bimmelte. Ein kalter Wind ließ die Buchseiten rascheln. Hoffnungsvoll hob Mira den Kopf.

„Heieiei, ist das frisch!“ Herr Krimbars schloss geschwind die Tür hinter sich.

Mira zog einen Flunsch. „Ich würde es so gern nochmal versuchen“, sagte sie mit einem Seufzer.

Frau Pusilski zuckte mit den Achseln. „Dann tu’s!“

Mira stöhnte. „Ich weiß nicht, wie!“

„Steht denn in keinem deiner Bücher was dazu?“ Herr Krimbars ließ sich mit der Tageszeitung in den Sessel in der Leseecke nieder.

In Miras Kopf fügten sich zwei Puzzleteile zusammen. „Natürlich!“, rief sie. „Das ist es.“ Sie tauchte unter der Theke hindurch und rannte hinaus auf die Straße. Der kalte Oktoberwind pfiff ihr um die Nase und sie zog das Schultertuch fester um sich. Sie nahm die U-Bahn raus nach Grünwald und rannte das letzte Stück zum Herrenhaus. Einen Augenblick noch zögerte sie, dann drückte sie die Gartenpforte auf und trat zurück in Arians Reich.

„Du solltest nicht hier sein!“ Emma war so plötzlich aufgetaucht, dass Mira zusammenzuckte.

„Mach mir die Tür auf“, sagte sie. „Schnell!“

Emma schüttelte energisch den Kopf. „Nein, in drei Tagen kehrt Phoboros zurück. Wenn er dich findet …“

„Ich weiß! Mach die Tür auf oder ich such mir einen anderen Weg hinein und wer weiß, was dann zu Bruch geht!“ Mira krempelte die Ärmel hoch.

Emma verschwand, doch als Mira die Haustür erreichte, war sie offen. Sie eilte in die Bibliothek, schnappte sich Newtons Principia und blätterte fieberhaft, bis sie die Stelle gefunden hatte. „Resonanz ist der Schlüssel zu des Phoboros‘ Macht.“ Ein entschlossenes Grinsen breitete sich auf Miras Gesicht aus. Im Sekretär neben der Tür fand sie einen Stoß Papier und Bleistifte. Sie klappte den Sitz aus, atmete tiefe durch und schrieb.

A C H T

„Er ist hier!“ Emma rang die Hände und huschte umher. „Ich kann ihn spüren. Noch ist es nicht zu spät! Lauf! Dein Opfer ist vergebens. Lauf doch!“

Mira presste die vollgekritzelten Papiere an ihre Brust. Sie starrte den Kristall an, den Arian ihr nach langen Diskussionen gezeigt hatte. Noch ein letztes Mal ging sie die Formeln im Geiste durch und nickte. „Ich bin bereit.“

Der Ballsaal pulsierte mit der Finsternis des Phoboros, knallend sprang die Vordertür auf und er kam hereingerauscht. Arian saß in seinem Sessel, den Kopf aufgestützt. Der Kristall ruhte in der Mitte des Saals auf einem Sockel und pulsierte im kränklich roten Licht der in ihm angesammelten Furcht. Die Gestalt des Phoboros floss wie Teer und Eiter in den Raum und ballte sich um den Kristall zusammen. „Du warst nachlässig“, schnarrte er. „Ein ganzes Jahr und das ist alles, was du zustande gebracht hast?“ Er schwebte auf Arian zu und baute sich drohend vor ihm auf. „Sehnst du dich nach Züchtigung? So sei es!“ Er holte mit seinen Krallen aus.

Arians Blick huschte zu Mira. Als hätte das den Phoboros auf ihre Anwesenheit hingewiesen, hielt er inne und drehte den Kopf. Seine rotglühenden Augen stachen aus dem Skelettschädel hervor. „Ein Mensch?“ Er zerfloss und baute sich vor ihr auf. „Wozu? Soll sie die jämmerliche Menge Furcht ausgleichen, die du mir bietest? Ich könnte nicht annähernd so viel aus ihnen extrahieren wie du mit deiner Gabe.“ Der Phoboros packte Miras Kinn. „Reine Verschwendung. Aber sei’s drum.“

Mira riss sich los und schrie die zurechtgelegten Zauberworte. Der Kristall erzitterte, rund um ihn herum flammten Runen auf dem Boden auf und bildeten einen Kreis um Mira und Phoboros. Der Dämon drehte sich herum und beäugte Mira. „Was wird das, Menschlein? Du willst spielen?“

„Kein Spiel. Resonanz.“ Mira formte die Symbole und sang die Worte. Sie hatte ihnen einen Rhythmus gegeben, um sie sich besser merken zu können. Der Kristall leuchtete stärker, seine kränklich rote Farbe wandelte sich in orange, dann gelb.

„Es funktioniert“, flüsterte Emma.

„Wahrhaftig!“, fügte Jorge hinzu, der sich hinter ihr hielt.

Arian war aufgestanden und trat an den Kreis. „Du schaffst es!“

Der Phoboros bäumte sich auf und tat einen markerschütternden Schrei.

Mira zuckte zusammen und sank auf die Knie. Ihr Gesang brach ab.

„Resonanz? Schwachsinn! Hier geschieht nichts als das Verstreichen deiner Lebenszeit!“ Er packte Mira am Hals und zog sie auf die Füße. Ihr Herz raste, Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie zitterte am ganzen Leib.

„Nein! Lass sie in Ruhe!“ Arian versuchte, in den Kreis zu gelangen, doch die Runenbarriere verwehrte ihm den Zutritt. „Mira!“

Sie hörte seine Worte wie durch Gelee, das ihr Ohren und Nase verstopfte und sie nach Luft ringen ließ.

Eines ihrer Blätter flatterte durch die Luft. Der Phoboros packte es. „Principia Mathematica? Ha!“ Er lachte laut auf. „Isaac Newton war ein Narr! Ein Süßholzraspler, ein Scharlatan, ein Kuhhändler. Ausgerechnet in ihn hast du dein Vertrauen gesetzt? Lachhaft!“ Er drückte fester zu und Mira fühlte das Leben aus ihr (aus sich?) weichen. Sie schlang die Hände um des Phoboros‘ dürren Arm.

Konzentrier dich, Mira, sie verlassen sich auf dich!

Sie rang nach Luft, schluckte die Furcht herunter, wie sie es schon bei Arian getan hatte. Doch der Phoboros war um ein Vielfaches furchteinflößender als er. Wie dumm von ihr, sich mit ihm anzulegen! Sie hätte es niemals versuchen dürfen, wer war sie schon? Ein kleines, dummes Mädchen, dass noch beim Vater wohnte. Tränen rannen über ihre Wangen. Der Phoboros verzog das Gesicht zu einem abscheulichen Grinsen. „Mmh, deine Furcht ist klein, aber deine Selbstzweifel sind umso größer. Was für ein köstliches Mahl!“ Er gab ein schnarrendes Geräusch von sich und schloss die Augen. „Dir ist vergeben, Arian. Aber im nächsten Jahr …“

Mit einem lauten Knall brach der Runenkreis. Arians Faust traf den Phoboros so unvermittelt, dass er Mira losließ und durch den Raum taumelte. Wie zwei Furien stürzten sich Emma und Jorge auf ihn und bewarfen ihn mit Blumenvasen, Musikinstrumenten und Stühlen.

„Mira!“ Arian fasste sie bei den Schultern. „Rede mit mir!“

Sie legte die Arme um ihn. „Der Kreis … er sollte doch dich, Emma und Jorge schützen. Jetzt kann ich das Ritual nicht mehr beenden“, krächzte sie und deutete auf den Kristall, dessen gelbliche Farbe schon wieder ins Rötliche floss.

„Doch!“ Arian packte sie fester. „Du kannst! Tu es, Mira. Wir halten dir den Phoboros währenddessen vom Leib.“

„Aber die Resonanz wird alle Schatten im Umkreis zerstören. Wenn die Formel stimmt, wird der Kristall …“

Arian nickte. „Ich weiß. Du hast es mir hundert Mal erklärt.“ Er küsste sie auf die Stirn und stürzte sich in das Getümmel aus Geistern, Schatten und dämonischer Bosheit.

Mira zögerte. Doch Arian hatte recht. Sie durfte den Phoboros um keinen Preis entkommen lassen. Mit zitternden Fingern sammelte sie ihre Blätter ein. Stand auf und sang die Worte. Formte die Zeichen und brachte den Kristall zum Vibrieren. Sie dachte an ihren Vater, ihre Mutter, Pusilski, Krimbars und die Bücher. Oh, diese wunderschönen, edlen Geschöpfe aus Wissen und Kreativität. Der Kristall färbte sich erst orange, dann gelb und schließlich grün. Die Farbe des Herzens, in dem Miras grenzenlose Liebe zu Wissen, Natur und Mensch wohnte. Und … Arian. Sie sah ihn an, voll Bedauern, doch es gab kein Zurück. Sie sang die letzten Worte und der Kristall erstrahlte in gleißend grünem Licht.

„Nein!“, schrie der Phoboros und wollte sich auf sie stürzen – doch zu spät. Mit einem hohen Ton zersprang der Kristall und entlud seine positive Energie in den Raum. Eine Schockwelle erfasste Mira und schleuderte sie gegen die Wand. Als sie wieder zu sich kam, war es taghell. Emma blickte verwundert an sich herab, Jorge löste sich bereits auf, Arian lächelte. Er hob die Hand, als wollte er ihr winken, und verschwand. Der Phoboros wand sich und zuckte umher, schrie und kreischte und zerfloss schließlich zu einer Teerpfütze im Zentrum des Ballsaals. Mira saß da und starrte die Decke an. Sie hatte es geschafft. Der Dämon war besiegt.

Mühsam kämpfte sie sich auf die Beine. Vom Haus war nicht viel übrig und der Rest schien sich ebenfalls aufzulösen. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie. „Ich wünschte, ich hätte mehr tun können.“

Auf dem Weg zurück zur U-Bahn reifte eine Erkenntnis in ihr. Es war Zeit.

Als das Glöckchen über der Ladentür erklang, stürzte Gustav zu ihr und umarmte sie. „Mein Kind! Was hast du nur getan?“

Sie legte das Kinn auf seine Schulter. Als sie sich wieder von ihm löste, schluckte sie. „Ich werde ausziehen.“

Gustav runzelte die Stirn. Er biss sich auf die Lippe, sein Blick ging in die Ferne. Dann lächelte er und nickte. „Das ist gut.“ Mit sanftem Blick fügte er hinzu: „Du wirst mir fehlen.“

Mira lächelte. „Du mir auch.“

E P I L O G

Stille lag über der Universitätsbibliothek Rhienburg. Nur das Rascheln von Seiten und das leise Klicken von Tastaturen lag in der Luft. Durch die hohen Fenster fiel das Licht der Frühlingssonne auf die Eichentheke, hinter der Mira Rückgaben sortierte. Ein Student mit zerzausten Haaren kam auf sie zu. „Äh, Frau Wolperstorf, könnte ich vielleicht noch eine Woche…?“

Mira zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme.

Der junge Mann faltete die Hände. „Hat Ihnen heute schon jemand gesagt, wie gut Sie aussehen?“

Mira hob auch die andere Augenbraue.

Der Junge ließ die Schultern sinken und gab die Bücher ab. Mira grinste, nahm sie entgegen und scannte die Codes ein. Grummelnd trollte sich der Student. Hinter Mira erklang das gedämpfte Geräusch eines schweren Buches, das auf die Theke gelegt wurde. Ohne aufzusehen, sagte sie: „Rückgaben kommen hier links rein.“

„Ich würde das Buch gern spenden.“

Erschrocken hob sie den Kopf – und erstarrte. Auf der Theke lag die Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica, die goldene Prägung des Ledereinbands glänzte im Sonnenlicht. Sie schlug die Hände vor den Mund und sah den Mann an, der das Buch abgelegt hatte. „Arian!“ flüsterte sie. „Wie ist das möglich?“

Er legte einen Finger an die Lippen und zwinkerte ihr zu. „Möchtest du einen Tee mit uns trinken?“ Vom Haupteingang winkten Emma und Jorge, in Fleisch und Blut.

Hastig stellte Mira das „Theke nicht besetzt“-Schild auf und ergriff Arians Hand. „Nichts lieber als das.“


Bild: Joel Fazhari auf Pixabay

Wie hat dir der Beitrag gefallen?
[Bewertungen: 0 Durchschnitt: 0]
Nach oben scrollen