Wald-Fiesta

Diese Kurzgeschichte habe ich für den Podcast Lagerfeuerabend verfasst. Hör doch mal rein, es gibt viele tolle Beiträge von den unterschiedlichten Autor*innen!


In the shadows of the city

Where the neon lights collide
We chase our dreams through darkness

With the fire deep inside

dröhnte es aus den Lautsprechern. Melissa hatte voll aufgedreht und sang ihren Lieblingssong mit, während Tim ihren Wagen über die Landstraße trieb. Links und rechts nichts als Schwarzwald – genau so, wie sie es sich vorgestellt hatten, als sie am Mittag in München losgefahren waren. „Whoo!“, rief Melissa, als der letzte Akkord verklang. Das Auto tat einen Satz nach vorn und wurde langsamer. Stirnrunzelnd trat Tim das Gaspedal durch. Wieder hüpfte das Auto, noch einmal und noch einmal. Der Motor erstarb und mit ihm auch das Radio.

„Was ist los?“ Melissa schlang die Arme um sich und sah aus dem Fenster in die finstere Nacht.

Tim drehte den Zündschlüssel, doch nichts geschah. Er sah aufs Armaturenbrett und fuhr sich übers Gesicht. „Ach, das bedeutet die verdammte Lampe.“

Melissa hob eine Augenbraue. „Welche Lampe?“

Tim deutete auf die Tankanzeige.

„Sag mal, bist du blöd?“, fuhr Melissa ihn an. „Wie hast du das denn übersehen können?“

„Woher soll ich wissen, was ein rotes E bedeutet? Bei meinem Wagen ist da eine Balkenanzeige und der letzte Balken blinkt, wenn der Sprit alle ist.“

Melissa stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen. „Das darf doch nicht wahr sein. Ich hätte selber fahren sollen.“

„Und auf die Cocktails bei Maike verzichten? Das will ich sehen.“ Tim verschränkte die Arme und starrte an den beiden Lichtkegeln der Frontscheinwerfer entlang, die durch die Dunkelheit schnitten.

Melissa langte an ihm vorbei und schaltete das Licht aus. „Bevor die Batterie auch den Geist aufgibt.“

„Bist du verrückt?“ Tim schaltete das Licht wieder ein. „Wenn das Auto dunkel ist, sitzt uns der nächste, der hier vorbeikommt, im Kofferraum!“

Melissa riss die Tür auf und stieg aus. „Ich geh das Warndreieck aufstellen.“

Als sie zurückkam, lehnte Tim an der Fahrertür mit dem Handy in der Hand. „Kein Netz“, sagte er.

„Klassiker.“ Melissa holte ihr Handy hervor und kam zum selben Ergebnis. „Hast du eine Ahnung, wo wir sind?“

Tim sah sich demonstrativ um und breitete die Arme aus. „Ich würde sagen, wir stehen im Wald.“

Melissa stöhnte. „Mann! Warum hast du nicht vollgetankt, bevor wir los sind!“

Du hast doch gesagt, die Tankfüllung reicht locker bis Wildbach.“

„Hätte sie auch, wenn du nicht vorhin mit der Kuh ums Dorf gefahren wärst, weil du ohne Handy nicht einen Meter weit navigieren kannst!“ Ruhelos tigerte sie auf und ab.

„Fürs Navigieren ist eigentlich der Beifahrer zuständig, Miss Ich weiß genau wo’s langgeht“, erwiderte Tim gereizt.

Melissa rollte mit den Augen. „Ja klar, jetzt wär’s ich gewesen. Wer hatte denn die dämliche Idee quer durch die Pamperia ins Nirgendwo zu fahren, um in einer Waldschenke wie Schiller einst zu übernachten?“ Sie unterstrich ihre Worte mit Gänsefüßchen, die sie in die Luft zeichnete.

Tim schnaubte. Er verschränkte die Arme und wandte sich ab.

Melissa fluchte. Eine Weile schwiegen sie sich an.

„Egal, streiten bringt uns jetzt auch nicht weiter“, sagte sie schließlich.

Tim nahm die Arme herunter. „Was machen wir jetzt?“

Achselzuckend wandte sich Melissa dem Kofferraum zu. „Ein Nachtlager aufschlagen. Solange das Auto mitten auf der Straße steht, sollten wir da nicht drin sitzen. Wenn es hell wird, gehen wir Hilfe suchen.“

Tims Schultern sanken herab. „Ich hab keine Ahnung von Lageraufschlagen.“

Melissa schmunzelte. Sie holte eine Abdeckplane und das Abschleppseil aus dem Kofferraum. „Sieh zu und lerne, junger Deshi.“

„Junger was?“ Tim folgte ihr in den Wald.

„Deshi. Japanisch für Schüler.“ Melissa befestigte das Seil am Stamm einer Kiefer.

„Du bist so ein Nerd.“ Tim nahm das andere Ende des Seils und befestigte es an einem nahestehenden Baum.

Gemeinsam warfen sie die Plane darüber und beschwerten die Ränder mit Steinen. Melissa stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete ihr Werk. „Sieht doch gut aus.“ Ihre Augen funkelten. „Sollen wir Feuer machen?“

Tim verzog das Gesicht. „Und den Schwarzwald abfackeln? Nein, danke.“

„Ach komm, das ist romantisch! Es hat die ganze Woche geregnet, es ist windstill und außerdem wird es saukalt in diesem Zelt. Da will ich wenigstens aufgewärmt reinkriechen.“

Tim seufzte. „Na gut. schauen wir, wo‘s hier ein geeignetes Fleckchen gibt.“ Er leuchtete mit der Handylampe in der Gegend herum, bis sie einige Meter weiter eine Stelle fanden, wo weder Bäume noch Büsche zu nah beieinander standen, und der Boden sich leicht von Laub und Ästen befreien ließ. „Optimal!“, freute sich Melissa und holte den Klappspaten aus dem Kofferraum, den ihr Vater ihr mit großer Geste überreicht hatte. „Da du selbst nie zur Bundeswehr musst“, hatte er gesagt, „sollst du wenigstens das eine Andenken besitzen, das das ganze Theater wert war.“

Während sie ein kleines Loch aushob und mit Steinen und Sand auspolsterte, suchte Tim nach trockenem Holz. „Au Mann, ich hoffe, das Zeug ist so trocken, wie es aussieht. Ich musste bis zur Hüfte ins Unterholz kriechen“, stöhnte Tim. Er reichte Melissa seine Ausbeute und half beim Aufschichten. Als sie Tims Arme im Licht der Handylampe sah, zuckte sie zusammen. „Ohje“, sie nahm seine zerkratzten Hände und küsste sie sacht. „Mein tapferer Jäger und Sammler.“

Er grinste. „Ach, auf einmal.“

„Schon immer.“ Sie lächelte sanft.

Mithilfe des Stabfeuerzeugs aus dem Handschuhfach entzündete Melissa das Moos im Zentrum ihrer kleinen Anzündholzpyramide. Nach und nach gab Tim etwas größere Stücke dazu, bis sie ein kleines Feuer in Gang hatten.

„Nicht schlecht.“ Melissa stellte eine der großen Wasserflaschen neben das Feuer, falls sie schnell löschen mussten, und setzte sich zu Tim auf die Decke. Sie lehnte sich an ihn und seufzte. „Okay, das ist ehrlich gesagt viel cooler als die Couch in der Wildbacher Pension.“

Tim lachte. „Das sagst du jetzt. Wenn dir morgen früh vom Schlafen auf dem Waldboden alle Knochen wehtun, wirst du mich wieder dafür beschimpfen, dass ich nicht vollgetankt habe.“

Melissa schlang die Arme um die Knie. „Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe“, sagte sie leise.

Tim winkte ab. „Ich hab’s verdient. Wäre ja nichts dabei gewesen, gleich vollzutanken.“

Melissa küsste ihn sacht. „Du hast nichts als Liebe verdient.“

Tim legte den Arm um sie und zog sie näher zu sich heran. „So wie du.“ Seine Hand glitt über ihren Oberschenkel. „Weißt du, was das Beste am Streiten ist?“, flüsterte er in ihr Ohr.

Melissa schmunzelte. „Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst.“ Sie öffnete die Lippen, doch bevor sie ihn küssen konnte, erklang ein lauter, durchdringender Schrei. Sie zuckte zusammen und klammerte sich an Tim. „Was war das?“

Tim stand auf. „Ins Auto. Schnell.“ Er zog Melissa auf die Füße, doch sie hielt ihn zurück.

„Da ist es gefährlich und wir können das Feuer nicht allein lassen.“ Sie sah in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. „Vielleicht braucht jemand Hilfe.“

Energisch schüttelte Tim den Kopf. „Ich geh ins Auto.“ Er streckte ihr die Hand hin, sie aber verschränkte die Arme.

„Ich komm gleich nach.“ Sie holte ihr Handy hervor, schaltete die Taschenlampe ein und ging tiefer in den Wald.

„Melissa, nein!“, rief Tim. Er schien mit sich zu ringen, doch er folgte ihr nicht.

Ihr Entschluss aber stand fest, sie musste nachsehen, was das für ein Schrei gewesen war.

Unruhig glitt der Strahl der Taschenlampe über den Waldboden. Ein kalter Windhauch streifte sie. Melissa fröstelte. Sie sah nach links. Bäume, ein gespenstisch bebender Strauch, dornige Ranken, die ihr den Weg versperrten. Sie ging nach rechts. Wieder ertönte der Schrei, jetzt näher, durchdringender.

„Hallo?“, rief Melissa. „Wer ist da? Brauchen Sie Hilfe?“ Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Der Lichtstrahl huschte hinüber, doch da war nichts. Angestrengt starrte Melissa das raschelnde Gebüsch an. „Hallo?“, fragte sie noch einmal. Ihre Stimme zitterte, vor Kälte, vor Aufregung, vor Furcht.

Ein Knacken ließ sie zusammenfahren. Jemand näherte sich schnell von hinten. Melissa schrie auf. Sie fuhr herum und duckte sich instinktiv. Etwas traf sie an der Schulter. Wieder erklang der Schrei, diesmal direkt über ihr. Sie schlang die Arme um den Kopf und kauerte sich zusammen. Etwas sprang über sie hinweg, noch etwas und noch etwas. Als sie den Kopf hob, sah sie drei junge Hirsche zwischen den Bäumen verschwinden. Der letzte blieb stehen und wandte ihr den Kopf zu. Seine dunklen Augen glänzten im Mondlicht. Er öffnete das Maul und der Schrei, der Melissa hergelockt hatte, erklang. Das Tier drehte sich um und verschwand im Wald. Melissa starrte ihm nach. Nur langsam ließ das Zittern ihrer Glieder nach, bis sie plötzlich lachen musste. Prustend und grinsend stakste sie durch das Unterholz zum Wagen zurück. „Tim!“, rief sie und winkte. „Tim, es waren Hirsche. Kannst du dir das vorstellen?“

Tim sprang aus dem Wagen und rannte auf sie zu.

„Wusstest du, dass die so tun?“ Melissa ahmte den Schrei nach, noch immer ein Grinsen im Gesicht.

Tim nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich. „Warum kannst du nie irgendwas gehen lassen? Ich hab mir Sorgen gemacht.“

„Du hättest mir folgen können, so als tapferer Jäger und Sammler“, neckte Melissa ihn.

Tim presste die Lippen zusammen.

Sanft gab Melissa ihm einen Nasenstüber. „Ach, nun sei nicht beleidigt. Komm, setzen wir uns wieder ans Feuer.“ Sie zog ihn mit sich.

Erschöpft ließ sich Tim auf die Decke fallen. „Ich glaube, wir sollten lieber schlafen gehen.“

„Gute Idee.“ Melissa spitzte die Lippen. Sie fuhr mit dem Handrücken über seinen Oberarm. „Nun, da wir das Monster aus dem Wald vertrieben haben, könnten wir ja da weitermachen, wo …“ Das kurze Aufheulen einer Sirene ließ sie zusammenfahren.

Von der Straße näherten sich die Lichtkegel zweier Taschenlampen. Melissa beschirmte die Augen. Tim stand auf.

„Guten Abend, die Herrschaften“, sagte ein Mann, der sich als Polizist herausstellte. „Ist das ihr Fiesta, der da mitten auf der Straße steht?“

„Das Campieren in freier Wildbahn ist hier nicht gestattet“, sagte der zweite Beamte.

Tim hob entschuldigend die Hände. „Tut uns leid, wir hatten keinen Sprit mehr und da wir auch kein Netz hatten und keine Ahnung, wo wir sind …“

Der Polizist maß ihn mit strafendem Blick. „Ah, Touristen. Warum sind Sie nicht einfach der Straße bis zum Ort gefolgt? Das sind vielleicht zwei Kilometer von hier.“

Melissa und Tim tauschten Blicke. „Echt?“, Melissa prustete. „Mist. Tut mir leid, da hätten wir wirklich drauf kommen können.“

Der Polizist seufzte. „Machen Sie das Feuer aus und packen Sie Ihre Sachen zusammen, dann fahren wir sie hin.“

Eilig löschten die beiden die Flammen und deckten die Feuerstelle mit Sand ein. Tim löste das Abschleppseil und Melissa faltete die Plane zusammen.

Als sie alles verräumt hatten, stiegen sie in das Polizeiauto. „Sobald Sie wieder Empfang haben, rufen Sie den Abschleppdienst, bevor noch was passiert“, sagte der Polizist auf dem Beifahrersitz in tadelndem Tonfall.

Melissa lehnte sich an Tim und raunte ihm zu: „Na, wenigstens haben wir jetzt was zu erzählen, wenn wir wieder bei Maike sind.“

Tim schüttelte den Kopf und lachte.


Bild: Pexels auf Pixabay

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