Radio 889FM Literatur zwischen den Jahren.
Diese Weihnachtsgeschichte habe ich für die Hörerinnen und Hörer von 889FM Kultur verfasst und eingelesen. Viel Spaß!
Wo du warst, bleibt ein Licht
Klaus saß auf der Küchenbank über einen Stapel Papiere gebeugt. Eine Zahnarztrechnung, eine Mitteilung der Klassenlehrerin, ein Schreiben der Stadtwerke. Neben ihm stand eine halbleere Tasse Roibuschtee, längst kalt. Aus dem Radio dudelte Weihnachtsmusik. Bing Crosby versprach White Christmas, aber draußen regnete es in Strömen.
Klaus lehnte sich zurück. Überall stapelten sich überfällige Baustellen: eine kaputte Schranktür, die Emma als Zeichentafel diente, ein überquellender Papierkorb, abblätternde Farbe in der Zimmerecke. Er sah auf die Uhr und seufzte. Emma kam herein. Sie hatte ihre Kuschli im Arm und Schlaf in den Augen. „Papa, warum bist du noch wach?“
„Das könnte ich dich genauso fragen. Ab ins Bett, morgen ist Schule!“
Emma riss die Augen auf. „Am Sonntag?“
Stirnrunzelnd sah Klaus auf den Kalender. „Ja, äh nein … natürlich nicht. Na gut, komm her.“
Emma kletterte auf die Bank und kuschelte sich an ihn. „Der Weihnachtsmann hat meinen Wunschzettel bekommen, oder?“
„Klar. Du bekommst einen AC-170 Starfighter mit 2 Klonsoldaten und das Malset Glitzerpinsel-Eskalation. Wie gewünscht.“
Emma sah ihn sorgenvoll an. „Papa, das sind die Sachen, die ich mir von dir gewünscht habe. Also hat der Weihnachtsmann den Wunschzettel nicht bekommen?“
„Wo ist denn dieser Wunschzettel?“
Emma deutete auf den Apothekerschrank. „Im Weihnachtsmann-Briefkasten. Wie jedes Jahr.“ Ihre Unterlippe bebte. „Da wurde er immer abgeholt, nur diesmal nicht. Jedenfalls war er gestern noch da.“
Klaus hob Emma von der Bank. „Geh wieder ins Bett, Mäuschen, ich kümmere mich darum. Der Weihnachtsmann bekommt deinen Wunschzettel auf jeden Fall.“
Emma nickte und tapste hinaus.
Klaus ging zu dem Schrank mit den hunderttausend Fächern. Clara hatte ihn geliebt und er ihn bis heute nie angefasst. Unten links gab es eine Schublade mit einem Weihnachtsmanngesicht darauf. Er zog sie auf und fand eine selbstgemalte Postkarte darin. Auf der Rückseite stand: „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir, dass Mama wiederkommt, aber falls das nicht geht, wünsche ich mir, dass Papa trotzdem wieder fröhlich ist. Er lacht überhaupt nicht mehr.“ Ein Stich fuhr Klaus ins Herz. Seine Augen brannten. „Oh, Emma“, murmelte er. „Ob der Weihnachtsmann das kann?“
Als Emma am nächsten Morgen in die Küche kam, ging sie schnurstracks zum Apothekerschrank, öffnete die Schublade und nickte lächelnd. Klaus saß mit einer Tasse Kaffee da und überlegte, wie er Clara wenigstens ein bisschen zurückbringen konnte. Was hatten sie und Emma immer gemacht? Plätzchen gebacken? „Hättest du darauf Lust?“, fragte er.
Emma berührte ihn sacht am Unterarm und sagte mit dem Tonfall einer Kindergärtnerin: „Ich kann keine Gedanken lesen, Papa.“
Ein Lächeln kitzelte in seinen Mundwinkeln. „Plätzchen backen. Magst du?“
Emmas Augen leuchteten. „Au ja! Und dann verteilen wir sie an die Nachbarn, ganz heimlich. Sch!“ Sie legte einen Finger an die Lippen. Ihr Blick ging zum Fenster, wo sich der Regen über Nacht in dicke Flocken verwandelt hatte. „Woah!“ Sie sprang auf die Bank. „Papa, es ist so schön draußen! Gehen wir auf den Weihnachtsmarkt?“
„Musst du nicht in die Schule?“
Emma rollte mit den Augen. „Papa, es ist Sonntag!“
Klaus stand auf und griff nach seiner Jacke. „Na gut, Weihnachtsmarkt, dann Plätzchen backen. Aber wir kaufen nicht noch mehr Baumschmuck!“
„Nur Schokofrüchte!“, rief Emma.
Im Lichtermeer unter der Samariterkirche reihten sich die geschmückten Buden aneinander. Emma streckte die Zunge heraus, um Schneeflocken zu fangen. Überall hingen Tannenzweige und goldene Kugeln, der Duft von frischen Waffeln lag in der Luft.
„Schokofrüchte!“, rief Emma und zerrte Klaus an den Süßwarenstand. Gegen seine Überzeugung kaufte er mit Vollmilchschokolade überzogene Erdbeeren, und für sich selbst Magenbrot. Da sah Emma einen Nikolaus, der Schokolade verteilte. „Papa, Papa, darf ich?“
„Lauf nur.“ Klaus sah ihr zu, wie sie sich in die Traube aus Kindern einreihte und faltete die Tüte mit dem Magenbrot auf. Als er ein Stück herausnahm, sah er plötzlich Clara vor sich, wie sie es immer in ihren Glühwein getunkt und ihn dabei spitzbübisch angegrinst hatte. Die Erinnerung traf ihn wie ein Eisknödel. Seine Schultern sanken herab. Er legte die Tüte auf einen Stehtisch, schob die Hände in die Taschen und wanderte an den Ständen entlang.
„Sie fehlt Ihnen sehr, nicht wahr?“
Klaus sah auf. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, saß hinter der Theke einer winzigen Bude. Warmes Licht strahlte heraus, überall baumelten Kugeln und Strohsterne.
„Kein Baumschmuck“, murmelte Klaus und ging weiter.
„Warten Sie, Herr Klemke.“ Die Frau war aufgestanden und hielt ihm etwas hin.
Zögernd kam Klaus zurück. „Kennen wir uns?“
„Das ist für Sie.“ Mit einem Lächeln reichte sie ihm eine Postkarte.
„Nein, danke.“ Er wandte sich ab.
„Ein Geschenk. Emma wird sich freuen.“
Klaus runzelte die Stirn. „Wer sind Sie?“
Statt einer Antwort steckte die Frau die Karte in die Innentasche seines Parkas und klopfte ihm auf die Brust. „Am besten, Sie heften sie an den Kühlschrank. Neben den Stundenplan.“
Sprachlos starrte er sie an.
„Papa, Papa, guck nur, guck doch, guck!“ Emma zupfte an seinem Ärmel. Sie hielt ihm eine deformierte Schokofigur hin, die Klaus erst auf den zweiten Blick als Nikolaus identifizierte. „Sehr schön“, sagte er und sah wieder zu dem Stand. Doch dieser war verschwunden. Er blinzelte. Was?
„Alles gut, Papa? Du siehst aus, als hättest du den Weihnachtsmann gesehen und er hätte keine Geschenke für dich gehabt.“
„Doch, hatte er.“ Klaus griff in seinen Parka. „Oder sie, besser gesagt.“
Auf der Postkarte war ein verschneiter Park zu sehen, mit einer Bank unter einem Baum, beleuchtet von einer Straßenlaterne. Das Bild wirkte friedlich – und irgendwie magisch. Mit einem sanften Schimmer flackerte eine Silhouette auf der Bank auf, die Klaus sofort an Clara denken ließ – so vertraut wirkte sie. Auf der Rückseite stand „Wo du warst, bleibt ein Licht“.
Emma griff nach der Karte. „Ui, die ist ja schön! Lass sie uns an den Kühlschrank hängen. Neben meinen Stundenplan!“
Klaus sah auf. „Was?“
„Ach, Papa, du bist so pusselig heute wie eine Oma! Gehen wir lieber Plätzchen backen, bevor du das noch vergisst!“ Emma nahm ihn bei der Hand und zog ihn nach Haus.
Die Küche glich einem Schlachtfeld. Mehlstaub lag wie frisch gefallener Schnee auf der Arbeitsplatte, auf dem Boden und auch in Emmas Haaren. Klaus versuchte den Teig auszurollen, doch der klebte hartnäckig am Nudelholz fest. Er seufzte.
„Nicht aufgeben, Papa!“ Emma tätschelte seine Schulter. „Du musst nur mehr Mehl nehmen!“
„Mehr Mehl?“ Klaus besah sich den weißen Teppich, der alles bedeckte. „Mit dem, was hier rumliegt, könnte man eine ganze Bäckerei winterfest einstreuen.“
Lachend warf Emma eine Handvoll Mehl über den Teig. „Versuch’s nochmal!“
Klaus lächelte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich … leicht. Sein Blick glitt zu der Postkarte am Kühlschrank. Neben dem Stundenplan. Was für eine verrückte Begegnung. Er rollte den Teig aus und Emma rammte mit Feuereifer die Ausstecher hinein.
Während sie das Blech im Ofen beobachtete, räumte Klaus auf.
Die noch warmen Plätzchen stopfte Emma abwechselnd in acht kleine Beutel und ihren Mund.
„Iss nicht so viel davon, du kriegst Bauchweh.“
Emma sprang mit den Beuteln im Arm von der Küchenbank. „„Jetzt kommt der beste Teil! Der Ver-Teil!“
„Geh nur, ich räum hier auf.“
Emma sah ihn entsetzt an. „Aber … das ist der beste Teil!“
Seufzend ließ sich Klaus mit ins Treppenhaus ziehen, wo sie wie Diebe im Dunkeln herumschlichen und vor jede Wohnungstür ein Tüte mit Plätzchen legten. Hoffentlich steigt keiner drauf, dachte Klaus. Emma sah jedoch sehr zufrieden aus.
„Das war ein schöner Tag.“ Emma gab Klaus einen Kuss auf die Nase.
Er lächelte. „Ab ins Bett jetzt! Schlaf gut, Mäuschen.“
In der Küche herrschte Chaos, aber zumindest hing der Duft von Keksen in der Luft. Irgendwie war es Klaus gelungen, ein bisschen der alten Lebendigkeit der Weihnachtszeit einzufangen, aber letztlich blieben alle Bemühungen umsonst. Niemand konnte Clara zurückbringen. Nicht mal der Weihnachtsmann. Seufzend machte er sich ans Aufräumen.
Als er die Spuren der Plätzchenschlacht beseitigt hatte, sank er auf die Küchenbank. Sein Blick glitt zu der Postkarte. Wieder leuchtete sie. Was war das nur? Er pflückte die Karte vom Kühlschrank und drehte sie um. „Wo du warst, bleibt ein Licht“, las er noch einmal. Achselzuckend wollte er sie wieder befestigen, doch sie glitt ihm aus der Hand und segelte auf die Küchenbank. Er wollte sie aufheben, doch als er in Greifreichweite war, rutschte sie in den Spalt zwischen Sitzfläche und Rückbank. Zögernd öffnete er die Bank. Im Inneren fand er ein Gewühl von Klemmbausteinen, abgebrochenen Stiften und zerfledderten Zeichnungen vor. Und obenauf ein Fotoalbum, mit der Postkarte darauf. Klaus blinzelte. Wie kam das da hinein? Er setzte sich auf die Bank und öffnete das Album. Ein Bild vom Holi-Festival in Mitte sprang ihm ins Auge. Ihr erstes Date. Er, weil ahnungslos, in seinen besten Sachen, Clara mit ausrangiertem Sommerkleid und breitem Grinsen, beide vollständig mit Farbpulver eingestaubt. Da ein Foto vom Summer Breeze, mit dem Sänger einer dieser obskuren Bands, die Clara so geliebt hatte. Dann lauter Bilder von Clara und Emma. Beim Baden im Meer, beim Tanzen im Wohnzimmer, beim Singen im Park. Emmas erstes Weihnachten, wie sie auf Claras Arm lag und mit großen Augen den Baum anstarrte. Ein Träne fiel auf das Album. Schnell klappte Klaus es zu und rieb sich übers Gesicht. Er sah die Postkarte an. Auf der Bank schimmerten die Silhouetten eines Mannes und eines Mädchens im Licht der Laterne. Da verstand er es.
„Warum weinst du, Papa?“
Klaus fuhr auf. Er hatte Emma gar nicht bemerkt. Mit ausgebreiteten Armen winkte er sie heran. „Vor Freude“, flüsterte er. „Über dich.“
Emma kletterte in seine Arme.
„Weil da, wo du bist, auch immer Mama ist. Das macht mich froh.“
„Wirklich?“ Emmas Unterlippe bebte.
Klaus nickte.
Emma bemerkte das Album und schlug es auf. „Woah, da seid ihr ja voller Farbe!“ Sie deutete auf das Bild am Anfang.
Klaus lächelte.
Emma blätterte um. „Und hier hat Mama sooo einen Bauch.“ Sie dachte nach. „Weil ich da drin bin?“
Klaus sah sie ernst an. „Nein, das ist ihre Weihnachtsmannverkleidung, fehlt nur der Bart.“
Emma runzelte die Stirn.
Klaus lachte. „Natürlich weil du da drin bist, Mäuschen.“
Emma strahlte. „Papa, du kannst ja wieder lachen! Das ist so schön!“
Klaus drückte sie fest an sich. Gemeinsam gingen sie das Album Bild für Bild durch. Emma ließ sich zu jedem die Geschichte erzählen, während draußen, im Licht der Laternen die Schneeflocken tanzten.
Bild: Albrecht Fietz auf Pixabay