Wie du deine Figuren interviewst – Ein Gastbeitrag von Randy Ingermanson
Randy Ingermanson, a.k.a. The Snowflake Guy, hat einen großartigen Blog und weil er außerdem ein feiner Mensch ist, darf man seine Beiträge verbreiten und in diesem Fall sogar übersetzen. Ich hatte mir schon öfter überlegt, einige der besten Beiträge von Randy auf meinem Blog auf Deutsch zu veröffentlichen, weil sie so unglaublich viel Substanz haben, aber da ich mich eigentlich an Lesende und nicht an Schreibende richte, habe ich das immer vor mir hergeschoben. Heute ist aber einer dieser Tage, an den Dinge erledigt werden, auch wenn ich nicht genau weiß, wie es dazu kam, daher folgt nun der erste Gastbeitrag von Randy: Wie du deine Figuren interviewst. (Oder: Red erst mit deinem Team, bevor du 200 Seiten für die Tonne schreibst.)
Die meisten Romanautor*innen kennen ihre Figuren nicht besonders gut, wenn sie anfangen zu schreiben. Und das ist ein Problem. Denn: Du lernst deine Figuren beim Schreiben kennen. Und wenn du sie erst beim Schreiben kennenlernst … dann schreibst du locker 200 Seiten, bevor du weißt, mit wem du’s da überhaupt zu tun hast.
Heißt im Klartext: Wenn du Pech hast, musst du den ganzen Roman nochmal komplett umkrempeln, weil sich dein Hauptcharakter auf Seite 210 plötzlich wie ein ganz anderer Mensch verhält – und du merkst, das war er schon die ganze Zeit. Du kanntest ihn nur nicht.
Das ist ziemlich ineffizient, nicht wahr? Gibt’s da nicht ’nen schlaueren Weg?
Doch. Gibt es.
Wenn du zum Beispiel mit der Schneeflocken-Methode arbeitest, hast du schon ein gutes Tool, um deine Figuren systematisch zu entwickeln. Aber nicht jeder Kopf tickt so strukturiert. Und wenn du kein Schneeflöckchen bist (bin ich auch nicht), dann brauchst du eine Alternative.
Und die ist simpel: Interviewe deine Figuren.
Klingt albern? Ist es nicht. Im Gegenteil. Es ist einer der besten Tricks, um deine Charaktere so richtig lebensecht zu machen. Auch wenn du mit der Schneeflocken-Methode arbeitest, kann ein Interview helfen, die Lücken zu füllen – und deine Figuren vom Pappkameraden zum Menschen zu befördern.
Schritt für Schritt: So interviewst du eine Figur
Diesen Trick hab ich übrigens nicht erfunden – er stammt von John DeSimone, einem der ersten Weggefährten von Randy Ingermanson, dem Autor dieses Blogposts. John ist Schriftsteller, Editor, Lehrer, Ghostwriter … und er hat irgendwann einfach angefangen, mit seinen Figuren zu reden.
Und jetzt tun wir das auch. So geht’s:
- Such dir eine Figur aus, die du besser kennenlernen willst. (Spoiler: Fang mit der Hauptfigur an.)
- Öffne ein leeres Dokument.
- Frag deine Figur irgendwas. Zum Beispiel: „Was ist dein größtes Problem zu Beginn dieser Geschichte?“
- Lass sie antworten. Ohne Filter. Egal wie lang.
- Stell die nächste Frage, basierend auf ihrer Antwort. Du darfst charmant, provokant oder sarkastisch sein – Hauptsache, du bringst sie zum Reden.
Mach das wie ein neugieriger Journalist. Oder wie ein investigativer Seelsorger. Hauptsache, du hörst zu. Wie redet diese Figur? Was verheimlicht sie dir? Was verdrängt sie vielleicht sogar selbst?
Wen solltest du interviewen?
Klarer Fall: Alle, die mehr als drei Sätze sagen dürfen.
Aber unbedingt:
- Deine Hauptfigur. (Logisch.)
- Die Antagonisten. (Wichtig! Die meisten Schurken sind sonst bloß Abziehbildchen, die Sultan anstelle des Sultans werden wollen.)
- Alle POV-Figuren. Wenn du aus ihrer Sicht schreibst, solltest du auch wissen, wie sie denken.
Ein besonderes Plädoyer für die Bösewichte:
Interview deinen Antagonist*innen. Finde raus, warum sie tun, was sie tun. Was glauben sie über sich selbst? Die besten Gegenspieler*innen sind nicht die mit der besten bösen Lache – obwohl die sehr ikonisch sein kann – sondern die, die überzeugt sind, dass sie die Guten sind.
Ein Beispiel-Interview: Luke Skywalker (leicht angestaubt)
Und jetzt, zur Anschauung: Ein fiktives Interview mit einer Figur, die du kennst. Kein offizieller Kram, kein Kanon – einfach ein Denkexperiment. Was, wenn du Star Wars schreiben würdest, hättest Luke aber noch nie wirklich „zugehört“?
Ich (Randy Ingermanson): Hey Luke, du bist ein junger Typ auf ’nem Farmplaneten. Wo siehst du dich in fünf Jahren?
Luke (LS): Boah, überall bloß nicht hier. Ich sterbe vor Langeweile. Ich will raus – raus aus diesem verdammten Sandloch.
RI: Warum gehst du dann nicht einfach?
LS: Wegen Onkel Owen und Tante Beru. Die haben mich großgezogen. Ich kann sie nicht im Stich lassen.
RI: Ja, aber du bist doch kein Sklave. Und sie könnten jemanden einstellen.
LS: Können sie nicht. Kein Geld. Keine Droiden. Ich bin hier festgenagelt.
RI: Und was ist mit der Rebellion?
LS: flüstert Die gibt’s wirklich. Die kämpfen gegen das Imperium. Aber bis ich da hinkomm, ist der Krieg längst vorbei.
RI: Klingt doch sicherer so.
LS: Sicher? Die haben eine Superwaffe – den Todesstern! Ein Schuss, zack, ein Planet weniger. Und keiner macht was!
RI: Dann solltest du dich wohl raushalten.
LS: Ich kann nicht NICHTS tun! Ich bin ein verdammt guter Pilot! Ich könnte helfen!
RI: Aber du bist nur ein Junge auf einer Farm.
LS: Und trotzdem besser als nix! Mann, du nervst.
RI: Weißt du was, Luke? Du laberst von Mut und Heldentum, aber kannst nicht mal deinem Onkel sagen, dass du gehen willst.
LS: Pass auf, was du sagst, sonst …
RI: Sonst was? Kippst du mir deine blaue Milch über den Kopf? Du hast keine Macht!
LS: … Moment mal. Was hast du grad gesagt?
RI: Über blaue Milch?
LS: Nein, danach. Du hast „Macht“ gesagt.
RI: Macht?
LS: Ja, die Macht. Die Jedi. Die waren früher sowas wie Superkrieger. Keiner konnte sie besiegen.
RI: Klingt nach Märchen.
LS: Ja … vielleicht.
RI: Weißt du, was dein echtes Problem ist?
LS: Dass ich hier festsitze!
RI: Nope. Dein echtes Problem ist, dass du glaubst, du sitzt hier fest. Aber in Wahrheit bist du einfach zu feige, was zu riskieren.
LS: Das ist gelogen! Ich … ich hau dir gleich eine rein!
RI: Mach doch. Ach nee, kannst du ja nicht. Zu feige.
LS: haut zu
RI: Aua! Hey! Wo willst du hin?
LS: Keine Ahnung. Aber ich geh jetzt.
Und … Schnitt.
Jetzt du!
Bist du bereit, deinem ersten Charakter ein paar Fragen zu stellen? Dann mach es jetzt. Ja, wirklich – es gibt da draußen ein ganzes Universum voller Stimmen, die darauf warten, dass du zuhörst.
Also los. Frag sie. Und hör hin.
Ich spar mir das „Möge die Macht mit dir sein“. Stattdessen sag ich:
Möge deine Neugier größer sein als deine Angst.
Denn genau daraus entstehen gute Geschichten.
Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, findest du noch mehr Tipps, Tricks und Schreibinspiration auf Randys Blog oder in seinen Büchern. Schau doch mal vorbei!
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