Für eine Foren-Schreibübung vor einigen Jahren habe ich den ersten Liebesbrief meines Lebens verfasst. Er ist ein bisschen autobiografisch. Obwohl mein Leben glücklicherweise weit mehr nach meinen Wünschen verlaufen ist als das der bedauernswerten Briefeschreiberin, frage ich mich manchmal, was wohl gewesen wäre, wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich heute weiß.
Liebe C.,
es wird wieder Frühjahr. Spürst du, wie das Leben zurückkehrt? … Ich nicht.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit ich dich zuletzt sah. Damals tranken wir billigen Whisky mit noch billigerer Cola und träumten von der Zukunft. Du von IT und ich von „irgendwas mit Medien“. Wir lachten, grölten mit Onkel Tom und Ohrenfeindt, bis meine Schwester wütend an die Zimmertür klopfte, und als es still wurde, weil wir nur noch kicherten, küssten wir uns. Ich erinnere mich nicht mehr, wer von uns damit anfing, oder warum ich dir das Shirt abstreifte. Ich weiß nur noch, dass wir aufhörten, weil ich meine Tage hatte und du sagtest: „Machen wir einfach beim nächsten Mal weiter.“
Eine Woche später saß ich im Bus nach Wien. Auf dem Weg zu meinem Verlobten, die erste gemeinsame Wohnung herrichten. Achthundert Kilometer zwischen mir und dir. Wir telefonierten noch einmal. Du sagtest, du wirst jetzt wohl Berufssoldatin, denn bei der Fremdenlegion nehmen sie keine Frauen. Ich lachte. Aber es war kein Scherz, nicht wahr? Dieses tiefe Gefühl, zu Hause und wahrhaft am Leben zu sein – das habe nicht nur ich empfunden, wenn wir zusammen waren. Nicht wahr? Aber damals wusste ich nicht, dass es so etwas gibt. Ich wusste nicht, dass eine Frau eine Frau lieben darf, nicht einmal eine, die so wundervoll ist wie du.
Und jetzt sitze ich hier, zwanzig Jahre später. Meine Kinder sind so alt wie wir damals, und ich denke an dich und was hätte sein können, wenn ich ein bisschen mehr Mut gehabt und ein bisschen mehr auf mein Herz vertraut hätte. Dann hätte ich gewagt, es dir zu sagen, ein ums andere Mal. Hätte es nicht abgetan als Spinnerei wie meine Mutter oder die Vertrauenslehrerin. Dann hätte ich dich in meinen Armen gehalten und gesagt: Ich liebe dich. Und vielleicht hättest du gesagt: Ich dich auch. Dann wärst du jetzt hier und die Welt eine andere. Dann hätte „irgendwas mit Medien“ uns vielleicht nach Bali geführt oder nach Peru, und nicht in einen Teilzeitjob bei der Stadtverwaltung. Dann hätten wir statt einem Haus in der Neubausiedlung ein Hausboot auf der Seine oder einen Wohnwagen in Antwerpen und ich müsste mich nie wieder fragen, ob es so etwas wie Glück überhaupt gibt. So aber helfe ich dem Großen mit den Umzugskartons und der Kleinen mit der Abiprüfung und dieser Brief bleibt unbeantwortet, wie all die anderen davor.
Bis zum nächsten Frühjahr, in Liebe, B.
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