Weil ich sonst in letzter Zeit irgendwie nicht zum Schreiben komme, hier noch eine Schreibübung aus dem Schreib-Forum, diesmal zum Thema „eine Überraschung in der Schachtel“.
„Angelika, wir müssen los!“, tönte Karls Stimme aus dem Erdgeschoß.
„Bin gleich soweit!“, rief ich die Treppe hinunter und wandte mich wieder der Kiste mit den Fotos zu. Irgendeins aus Omi Getruds Jugend musste sich doch finden lassen. Die konnten doch nicht alle mit dem Schuppen in Rauch aufgegangen sein.
Eins nur! Ich hatte versprochen, eine tolle Diashow abzuliefern und alles schon so schön geplant, mit stimmungsvoller Musik und einer Lesung aus ihren Tagebüchern. Nur ein Jugendfoto für das Titelbild fehlte noch. Nur eins, das musste es doch geben!
Mit einem frustrierten Schnaufen klappte ich den Deckel der Kiste zu. Dann wohl nicht. Was soll’s. Ich schob sie wieder ins Eck mit den anderen Umzugskartons unter der Dachschräge zurück. Und stutzte. Obwohl ich schob und drückte, wollte sie nicht mehr in die Lücke passen. Ich zog die Kiste nochmal hervor und stellte fest, dass dahinter eine Schachtel klemmte. Schmal, vergilbt und von meinem groben Kistendrücken ordentlich eingedellt.
Seltsam.
„Angelika! Was dauert denn da so lange?“ Karls Stimme klang gedämpft und ärgerlich.
Kurz überlegte ich, ob ich es gut sein lassen und hinuntergehen sollte, denn zu spät zu kommen wäre unhöflich gewesen. Omi Getrud juckte es wohl kaum, aber Mama und Papa würden ziemlich sauer auf mich sein.
Die Neugier aber war zu stark. Ich kroch in die Lücke zwischen den Umzugskartons und angelte nach der Schachtel. Sie hatte sich dort hinten verklemmt und ließ sich kaum erreichen. Ich reckte mich und erreichte sie mit den Fingerspitzen, doch das Ding entglitt mir immerzu.
„Angelika!“, sagte Karl direkt hinter mir.
Ich ruckte in die Höh, knallte gegen die Dachschräge und fluchte lästerlich. „Herrgott nochmal, erschreck mich doch nicht so!“
„Was machst du denn da zwischen den Kisten? Die Trauerfeier beginnt in einer halben Stunde! Willst du, dass deine Mutter uns in ihrer passiv-aggressiven Art in die letzte Reihe zu Onkel Eduard verbannt? Hast du vergessen, wie viel Knoblauch dieser Mann isst, weil er die Theorie vertritt, der Tod würde ihn dann nicht mitnehmen?“
„Ach, der alte Otto-Gag, das meint er doch nicht ernst.“
„Nicht ernst? Neunzig Minuten in einer kleinen Kapelle neben ihm zu sitzen ist ernst! Also komm jetzt!“ Er deutete mit einer energischen Geste richtig Dachbodentür.
„Gleich. Hilf mir nur, diese Schachtel da unten rauszubekommen.“
Karl runzelte die Stirn. „Was für eine Schachtel?“
Ich kniete mich hin und zeigte sie ihm. „Die da. Ich muss wissen, was drin ist.“
Er rollte mit den Augen, kniete sich jedoch neben mich und angelte in die Lücke zwischen den Kisten. Nach einigem Ziehen und Zerren hatte er sie befreit und reichte sie mir. „Du kannst sie unterwegs aufmachen. Los jetzt!“
Karl holte den Wagen aus der Garage, während ich die Haustür verschloss und in der Einfahrt auf ihn wartete. Der Deckel ging ganz leicht von der Schachtel. Darin lagen einige Blätter und alte Fotos. Jackpot! Ich entfaltete das oberste Blatt, einen Artikel aus der Bregetaler Dorfgazette von 1934: Kein Berg zu hoch – Gertrud Bimmermann als erste Bregetalerin auf dem Matterhorn. Das Foto der aus drei Frauen und zwei Männern bestehenden Seilschaft war zu verblasst, um Omi richtig erkennen zu können, doch da stand ganz eindeutig ihr Name!
„Angelika!“ Karls Stimme hatte diesen weinerlichen Tonfall angenommen, wenn er kurz davor stand, sich in die Faust zu beißen und mit dem Fuß zu stampfen.
Schnell kletterte ich auf den Beifahrersitz und nahm das nächste Blatt aus der Schachtel. Ein weiterer Artikel über Omi Getruds Jugend als Alpinistin, diesmal sogar aus dem Wurzheimer Stadtanzeiger.
„Unglaublich! Wer hätte das für möglich gehalten?“ Als ich weiterblätterte, stieß ich auf ein Foto, das mir einen Schrei entlockte. Ich packte Karl am Arm. „Sieh nur! Sieh dir das an!“
Karl, der fast das Lenkrad verrissen hätte, fluchte. „Angelika, du machst mich wahnsinnig! Was ist denn?“
„Das ist ein Foto von Omi Gertrud mit Elisabeth Main, der bedeutendsten Alpinistin des frühen 20. Jahrhunderts!“ Lächelnd sah ich das Foto an. Unsere Omi mit zarten 19 Jahren und einer internationalen Berühmtheit, das war perfekt für die Titelseite meiner Diashow! Mama würde so stolz auf mich sein. Jetzt musste ich es nur noch schnell abfotografieren und … „Karl! Hast du meinen Laptop eingepackt?“
Karl stöhnte.
Bild von Karolina Grabowska auf Pixabay