Seelenschulden – Kapitel 1

Nachdem die Veröffentlichung von Seelenschulden höchstwahrscheinlich noch dieses Jahr erfolgen wird, teile ich hier nochmal als Appetithäppchen das erste Kapitel. Das ist noch nicht die „final-finale“ Version, wie es mein Verleger so treffend nannte, aber sehr nah dran. Viel Spaß!


Eines Tages würde ich bei dieser Scheiße draufgehen.

So vollgepumpt mit Magie und Fokus wie ich war, wirkte die Höhle wie das Innere einer Diskokugel auf mich. Das Licht der verdammten Feuerschalen stach mir in die Augen als wären sie Baustrahler. Wozu brauchten wir die überhaupt? Doktor Telmara kannte die Beschwörungen auswendig – das dicke Buch auf dem Sockel erfüllte seinen Zweck schon durch bloße Anwesenheit.

»Wir sind hinter dem Zeitplan, Gene.« Telmaras kniende Silhouette flackerte über die Wand. Sie wirkte wie eine hagere Ziege, die am Ritualkreis graste. Tatsächlich vervollständigte sie wohl eine der Runen.

»Begib dich in Position, es ist fast Sonnenaufgang.« Ihre Knie knackten als sie aufstand und zu dem Sockel außerhalb des Kreises ging.

Ich stand auf, massierte mir die Schulter unter dem Stoff des Kampfanzuges und kniete mich auf die goldenen Leitungen im Zentrum des Kreises. Sie verteilten die Magieströme gleichmäßig auf alle Runen am Rand. »Ich wünschte, wir könnten mal wieder eine Pflanze beschwören statt diesem aggressiven Viehzeug«, murmelte ich.

»Dieses.«

»Was?«

»Statt dieses aggressiven Viehzeugs. Im Gegensatz zu unserer täglichen Arbeit ist korrekte Grammatik kein Hexenwerk, Evgenia.«

Sie wusste, wie ich es hasste, wenn sie meinen vollen Namen benutzte. »Ich scheiß auf Grammatik.«

»Unerfreulicherweise.« Sie straffte sich. »Konzentration, jetzt!«

Wirkte ich etwa unkonzentriert? Bis jetzt war ich noch mit jedem Dämon fertig geworden, egal ob Vogel, Schlange oder Wolf. Das bedeutete nicht, dass mir das Spaß machte – ich hasste es. Ich hatte nur keine Wahl.

Telmara stimmte ihren andersweltlichen Gesang an. Die Runen am Rande des Kreises flammten auf und schossen in die Höhe, bis sie vom Lehmboden bis zur Höhlendecke eine bläuliche Barriere bildeten. Ein probates Mittel, um das, was sich im Kreis befand, darin zu halten. Mich zum Beispiel. Und natürlich den Dämon. Die Magieströme sammelten sich im Kreis und flossen durch meine Hände und Knie gebündelt in die Leiterbahnen. Das zuvor noch angenehme Kribbeln wandelte sich zu einem Zerren und Ziehen an meinem Inneren. Die Magie, durch Telmaras Gesang gelenkt, suchte den Schleier zwischen den Welten zu durchdringen. Dunkles Wasser blubberte vom Boden auf. Es markierte die Verbindung zum Dämonenreich und stieg manchmal bis in meine Nase. Anders als stoffliches Wasser hinderte es mich nicht am Atmen, aber es störte meine Konzentration empfindlich.

Telmaras Gesang wanderte eine Tonlage höher, die Anspannung in mir wuchs. Gleich war es so weit. Die Magie bündelte sich in den glühenden Strukturen des Beschwörungskreises, bis sie mit einem unhörbaren Ton explodierte. Der Schleier zwischen den Welten riss und offenbarte einen Durchgang zum Dämonenreich. Dahinter wogte tosend das dunkle Wasser und spie auf den gesungenen Befehl hin eine Kreatur aus.

Diesmal war es eine Art Keiler. Nur mit viel längeren und spitzeren Hauern. Hörner ragten überall zwischen seinen Borsten hervor, die rotglühenden Augen reflektierten das Licht der Feuerschalen. Schnaubend schüttelte er sich und sah sich um, bis sein Blick an mir hängen blieb. Ich löste die Hände von den Leiterbahnen, rieb das Kribbeln weg und hob das Messer auf, das vor mir lag. Es nicht am Körper zu tragen, barg Risiken, da die Entfernung zwischen mir und dem Riss nur drei Schritte betrug. Aber seit meiner ersten Ritualkreiserfahrung vermied ich es, irgendwelches Metall zu berühren, wenn starke Magie im Spiel war. Das Vieh maß gut eineinhalb Meter in der Höhe, fast so viel wie ich, und damit deutlich mehr als ein gewöhnliches Wildschwein. In einer besseren Welt würde ich es mit sanften Worten zu meinem Vertrauten machen und auf ihm in den Sonnenaufgang reiten.

»Erledige ihn schnell und sauber, Gene. Je weniger Energie er verbraucht, desto mehr bleibt für uns.«

Tja, nicht in dieser Welt. Sorry, Kumpel.

Der Keiler bäumte sich auf und brüllte. Er rammte die Hufe in den weichen Boden, fuhr herum und trat nach mir. Blitzartig wich ich aus. Die Magie verstärkte meine Reflexe und meine Kraft – anders hätte ein Mensch keine Chance gegen den gehörnten Sonntagsbraten. Den Messergriff fest gepackt, gab ich einen Schub Magie in die Bewegung und schlitzte ihm die Flanke auf. Dunkles Blut spritzte hervor und fiel zischend auf den Boden. Er quiekte schmerzerfüllt und wankte. Ich ließ das Messer sinken.

Armes Vieh.

Doch der Dämon gab sich noch nicht besiegt. Die Todesangst verlieh ihm neue Kraft. Er stieß mit dem Kopf nach mir. Ich wich aus, doch zu langsam. Ein Hauer durchdrang den Kampfanzug und schlitzte mir den Oberarm auf. Ächzend taumelte ich rückwärts und prallte gegen die Barriere. Mit derselben Kraft wurde ich von ihr in den Kreis zurückgeworfen. Kein Entkommen. Wieder bäumte der Keiler sich auf und ließ seine Hufe auf mich herabdonnern. Um Haaresbreite rollte ich mich zur Seite davon und kam wieder auf die Beine. Durch die Verletzung, die er mir beigebracht hatte, war etwas von der Dämonenmagie in meinem Körper auf ihn übergegangen. Zischend und blubbernd schloss sich die Wunde in seiner Flanke.

Ach, fuck.

»Was tust du denn da, Gene? Schnell und sauber habe ich gesagt!« Telmara war an den Kreis getreten und hatte die Arme verschränkt.

»Machen Sie Ihren Job und ich mache meinen, ja?« Ich gab das Messer in die andere Hand rüber und presste die Hand auf die Wunde an meinem Arm, bevor ich langsam zurückwich. Der Keiler schlug mit den Hinterbeinen aus und sprang auf mich zu.

Diesmal konnte ich reagieren.

Mit einer magieverstärkten Bewegung trieb ich ihm das Messer bis zum Heft in die Stirn. Er brüllte, wankte und stieß mich weg. Wieder erwischte mich einer der spitzen Hauer und schlitzte mir den Anzug quer über den Bauch auf. Ich wollte das Messer herausreißen, blieb jedoch hängen. Der Kopf des Viehs schnellte in die Höhe und traf mich mit meinem eigenen Messergriff gegen die Stirn. Kurz wurde mir schwarz vor Augen und ich fühlte mich wie eine Idiotin. Das Messer immer noch fest umklammert, taumelte ich rückwärts. Mit einem schmatzenden Geräusch löste es sich. Das Vieh heulte auf und sank zu Boden, gerade als ich wieder auf die Beine kam. Noch einmal holte ich aus, grub das Messer in seinen Hals und zog es durch. Dunkles Blut quoll über meine Hände, der Dämon sackte zusammen.

»Na endlich.« Telmara ließ den Kreis fallen und schlang ihm das Halsband um den Nacken. Die Runen auf dem weißen Leder flammten auf. Die Kreatur erstarrte. Statt sich aufzulösen, blieb seine Energie in dem Bannkreis des Halsbands gefangen.

Reglos lag er da, der Besiegte, während ich nach Atem rang. Ich sah zu, wie Telmara ihn streichelte und ein wenig von der Essenz kostete. Blut lief mir ins Auge. Ein genüssliches Stöhnen kam über ihre Lippen.

»Ich kann das nicht mehr.« Mehr Blut quoll aus der Platzwunde an meinem Schädel. Ich wischte es fort.

»Hm?« Telmara machte sich daran, die Runen zu deaktivieren und die Restmagie aufzunehmen. Wie ein Kind, dass nach seinem Lieblingsessen den Teller ableckte.

»Das Töten. Ich mache das nicht mehr.« Ich schleppte mich zum Rand des Kreises und sah ihr zu.

Sie stand auf und schlug den Almanach behutsam in das samtene Tuch ein. Telmara lächelte. »Wenn Mutter wüsste, wie ich ihre Forschung verfeinert habe. Sie wäre rasend vor Wut.« Verschmitzt zwinkerte sie mir zu. »Wir sind ein fantastisches Team, Gene.«

»Haben Sie mir nicht zugehört?« Inzwischen hatten meine Wunden angefangen sich zu schließen und mein Brustkorb fühlte sich nicht mehr so an, als würde er gleich zerspringen. »Ich mache das nicht mehr. Ich hab genug von Ihren Geschäften und Ihren Dämonen-Grillpartys und dem ganzen Scheiß hier.«

Telmara hob die Augenbrauen und musterte mich herablassend. Ihre hagere Gestalt, das schmale Gesicht mit der Brille und ihre scharf geschnittenen Züge schienen geradezu prädestiniert für diese Haltung. Der Doktorkittel dazu war fast schon optional. »Pacta sunt servanda, Evgenia.«

Ich verdrehte die Augen. Zum zweiten Mal heute benutzte sie meinen vollen Namen.

»Hast du unseren Vertrag vergessen?«

Ich knurrte. »Sie sagten, dass ich Ihnen bei Ihrer Forschung helfen soll. Nicht, dass ich Woche für Woche Dämonen töten muss.«

Sie lächelte dünn. »Genau das ist aber der Inhalt meiner Forschung. Und aufs Töten verstandst du dich doch schon immer recht gut.«

Ich schloss die Augen und wandte den Kopf ab. »Das war ein Unfall.«

»Na, aber doch nicht alles davon, hm?« Sie zwinkerte mir zu.

Meine Ohren glühten.

»Außerdem musst du zugeben, dass es zu deinen Talenten gehört.«

Sie legte die Arme um den Almanach und kam auf mich zu. »Und du hast ja auch profitiert von unserem kleinen Arrangement. Wenn ich mich damals nicht um die Bereinigung deines … Gefühlsausbruchs gekümmert hätte, säßest du jetzt wahrscheinlich in einer Strafvollzugsanstalt. Und was würde dann aus deiner armen, hilfsbedürftigen Pflegemutter?« Sie legte den Kopf schief. »Sicher ist dir bewusst, dass ich im Falle eines Vertragsbruchs auch deiner Schwester die Wahrheit über den Tod ihres …«

»Schon gut! Hören Sie auf!« Meine Ohren brannten so sehr, dass ich die Hände an den Kopf presste. Warum musste sie ständig darauf herumreiten?

Noch immer das spöttische Lächeln auf den Lippen legte Telmara den Almanach in seine Schatulle zurück. »Das Schweinchen kommt morgen Abend auf den Teller. Wenn du dabei sein willst, um meine Gäste zu schröpfen, bist du herzlich eingeladen.«

Mit gesenktem Kopf starrte ich auf meine bloßen Füße. Schwieg.

Sie nickte. »Vergiss nicht, hier aufzuräumen.« Damit drehte sie sich um und ging.

Finster sah ich ihr zu, wie sie in Richtung des Durchgangs zum Kellergewölbe verschwand. »Ach, fuck.« Ich ließ mich auf den Boden sinken und vergrub die Hände in den Haaren.

Wie man es auch drehte, mein Arsch gehörte ihr. Und wenn ich nicht wollte, dass meine Ma einen qualvollen Tod starb und meine Schwester mich hasste, würde das auch für alle Ewigkeit so bleiben. Genervt machte ich mich dran, das Dämonenblut aufzuwischen.

***

Als ich in die Küche kam, fiel strahlender Sonnenschein durch das Fenster. Die letzten Septembertage zeigten sich noch einmal von ihrer heißesten Seite. Ich suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem und fand überraschenderweise ein fertig belegtes Sandwich sowie ein gut gekühltes Mooser Liesl. Vielleicht mochte Telmara mich nicht besonders, aber ihre Haushälterin dachte immer an mich. Ich betrachtete die braune Flasche, auf der das Kondenswasser im Sonnenlicht schimmerte. Fiel ein Bier am Morgen schon in die Kategorie Alkoholproblem? Na ja, wen juckt’s? Ich nahm noch einen Heidelbeerjoghurt mit und ging hinüber in den Westflügel, wo Telmara mir ein kleines Zimmer zur Verfügung stellte. War ja auch in ihrem Sinne, dass ich nicht zu spät zu unseren Terminen kam, weil die S-Bahn eine Signalstörung plagte oder den Nachtbus ein Motorschaden.

Das Ritual hatte mich ausgelaugt, auch wenn meine Wunden inzwischen verschwunden waren. Bevor ich wieder etwas in dem Tempo heilen konnte, musste ich mich mit der Quelle verbinden und meine inneren Reserven füllen.

Aber vorher musste ich aus den zerstörten Klamotten und duschen.

Das heiße Wasser rann über meinen Körper und wusch zumindest den Dreck von mir, wenn schon nicht die miese Laune. Danach fühlte ich mich erst so richtig müde. Allerdings hatte der Einsatz der Magie wie immer auch einen erregenden Effekt gehabt, sodass ich mich auch auf den Abend mit den Gefallenen freute. Es gab unerfreulichere Arten, Geld zu verdienen, als mit Massagen und Streicheleinheiten. Ich teilte meine Kraft gern – ob gegen Bezahlung oder ohne.

Nach dem Abtrocknen und Anziehen holte ich meine metallenen Piercings aus dem Behälter im Spiegelschrank, um sie gegen die aus Acryl zu tauschen, die ich beim Ritual trug. Das in der Augenbraue war bei dem Stirntreffer weggeflogen, wie ich feststellen musste, und natürlich hatte sich das Loch geschlossen. Ich machte eine geistige Notiz, dass ich neue Acrylstecker brauchte. Diese Dinger gingen einfach zu schnell kaputt. Ich warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und ließ mich aufs Bett fallen. Ein paar Stunden Schlaf, bevor ich zu meinem anderen Job musste – das klang nach einem klugen Plan.

Gerade als ich die Augen geschlossen hatte, schallte Demons are a girl’s best friend aus der Tasche meiner Jeansjacke. Ich stand auf und sah nach, wer anrief. Stirnrunzelnd starrte ich die Nummer an. Meine Schwester. Es gab eine stillschweigende Vereinbarung zwischen uns: Sie fragte nicht, wo das Geld herkam, und ich teilte alles mit ihr und Ma. Und sie rief mich nicht an, wenn ich unterwegs war. Es musste etwas passiert sein. Mit zusammengepressten Lippen nahm ich das Gespräch entgegen.

Ein markerschütternder Schrei drang mir ins Ohr. Fast hätte ich das Handy fallen gelassen. Ich hörte aufgeregte Stimmen, die sich in einer Mischung aus Arabisch und Deutsch stritten.

»Gene?« Es knackte in der Leitung. Irgendwo krachte es. »Bist du da?«

»Mona, was ist denn nur los?« Mein Herz hämmerte.

»Sie wollen Maman in die Psychiatrie einweisen.« Ihre Stimme klang abgehackt, immer wieder unterbrochen von den Geräuschen aus dem Hintergrund. In schnellem Stakkato ließ sie eine arabische Wortsalve auf eine der anderen Personen los. »Kannst du schnell nach Hause kommen? Danke.« Aufgelegt.

Ich rieb mir übers Gesicht. Fuck.

Hastig schlüpfte ich in meine ausgetretenen Turnschuhe und warf die Jeansjacke über. Hoffentlich war die U-Bahn nicht gerade weg.

Als ich vom Ostbahnhof kommend die Grafinger Straße hinunterrannte, eine halbe Stunde nach Monas Anruf und ohne Hoffnung, noch rechtzeitig anzukommen, bog ein Krankenwagen um die Ecke und verschwand Richtung Westen. Verdammt! Hatten sie sie mitgenommen? Für einen Augenblick schwankte ich, ob ich die Verfolgung aufnehmen sollte, doch magische Stärke hin oder her – ein Auto konnte ich nicht einholen. Also sprintete ich weiter nach Hause. Vor unserem Wohnblock am Ende der Sackgasse hätte ich fast Frau Seligmann mit ihrem Rollator über den Haufen gerannt und musste über die Blumenrabatte springen. Die Alte schimpfte mir nach, obwohl ich ihr eine Entschuldigung zugerufen hatte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte ich die knarzende Treppe hinauf bis zum vierten Stock. Gerade wollte ich den Schlüssel ins Schloss stecken, als die Tür geöffnet wurde. Angie stand da und maß mich mit vorwurfsvollem Blick. So sah sie mich immer an, obwohl ich es war, die sie bezahlte. Ein bisschen Dankbarkeit empfand sie offensichtlich als zu viel verlangt.

»Mona ist bei ihr«, sagte die Pflegerin und ließ mich an ihr vorbeitreten.

Mein Herz klopfte. Ich kickte die Schuhe unter die Garderobe und ging mit nackten Füßen den Flur hinunter zu Anas Schlafzimmer. Sie lag im Bett, trotz des warmen Tages bis zum Kinn unter der Decke verborgen und atmete schwer. Das feuchte Tuch auf ihrer Stirn dampfte unter der Hitze, die ihr Kopf ausstrahlte. Mona saß auf dem Stuhl neben ihr und hielt ihre Hand. Sie sah mich nicht an. »Du bist da.« Ihr sorgenvoller Blick ruhte auf Ma. »Kannst du was für sie tun?«

Behutsam schloss ich die Schlafzimmertür hinter mir. »Ich versuch’s.«

»Sie haben ihr Morphium gegeben.« Mona stand auf und machte mir Platz. »Aber wenn es nicht besser wird, wollen sie sie mitnehmen.«

»Wer denn?« Ich setzte mich zu Ana ans Bett und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich kalt und wächsern an.

»Die Bittner hat den San-K gerufen, als Maman wieder einen ihrer Anfälle hatte. Sagt, das Geschrei gehe ihr durch und durch. Kann ich ja verstehen.« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. »Wenn Angie nicht gerade hier gewesen wäre, hätte ich sie nicht davon abhalten können, sie mitzunehmen. Aber sie hat sie mit ihrem Pflegefachsprech belabert, sodass sie wieder abgezogen sind.«

Plötzliche Dankbarkeit gegenüber der übellaunigen Pflegekraft wallte in mir auf. Wenigstens verschlang ihr Honorar nicht grundlos den Großteil meines Telmara-Geldes. »Das ist gut.«

Plötzlich fasste Ana meine Hand fester. Ihr Körper bäumte sich unter einer neuerlichen Welle Schmerzes auf.

»Lass uns einen Moment allein, bitte.«

Mit zusammengepressten Lippen drückte ich sie zurück in das Bett und schnallte sie fest. Sie riss die Augen auf und schrie angsterfüllt. Es war kaum zu ertragen, sie so zu sehen.

Mona standen Tränen in den Augen, als sie sich umdrehte und fluchtartig das Zimmer verließ.

Ich holte das Messer hervor und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle zwischen Daumen und Handfläche der Rechten. Es war die Stelle, die ich mir ausgesucht hat, weil sie mich an die Nacht erinnerte, in der alles zum Teufel ging. Ich legte die Hand auf Anas und setzte die Spitze der Klinge auf meinen Handrücken. In Erwartung des Schmerzes atmete ich flacher, schneller. Mein Herz schlug bis zur Kehle hinauf.

Mach schon, bring es hinter dich!

Ich hielt die Luft an und stieß das Messer mit einem Ruck ganz hindurch. Fast hätte ich mich an dem unterdrückten Schrei verschluckt. Mit zitternden Fingern streichelte ich Anas Arm. Die Spitze des Messers ritzte ihren Handrücken, sodass die Magie, die die Wunde zu schließen versuchte, entlang der Klinge in ihren Körper floss.

Eine Technik, die ich durch Zufall entdeckt hatte, und die mich zwischen Dankbarkeit und Agonie gefangen hielt.

Ächzend und fluchend versuchte ich, mit dem Schmerz zu atmen. Sternchen sammelten sich in meinem Blickfeld. Nach und nach beruhigte sich Ana. Die Anspannung wich aus ihr, als die Magie ihre Seele berührte und die Fehlzündungen in ihren Nerven nachließen. Die Zähne so fest aufeinandergepresst, dass sie knackten, beobachtete ich, wie sie immer entspannter wurde und die Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. Kalter Schweiß rann mir über die Stirn. Ein Stechen fuhr mir in den Brustkorb. Das Atmen wurde schwerer. Mit letzter Kraft riss ich das Messer heraus und presste den Lappen auf die Wunde, den Ana zuvor auf der Stirn gehabt hatte. Ein großer, dunkler Blutfleck hatte sich auf der Bettdecke gebildet. Angie würde wieder meckern, weil das so schwer sauberzukriegen war.

Erschöpft lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und sah meiner Ma beim Schlafen zu. Wie friedlich sie jetzt aussah. War das ein Lächeln auf ihrem Gesicht? Schien fast so. Ich atmete etwas leichter. Der Schmerz in meiner Hand ließ nach, doch das Stechen im Brustkorb blieb. Ich hatte heute Morgen schon eine Menge Kraft verbraucht, um den Dämon zu töten. Jetzt den Rest davon in Ana zu pumpen, hatte mich müde und schwerfällig gemacht. Ich konnte froh sein, wenn ich es bis nach nebenan in mein Bett schaffte. Mühsam schob ich mich in die Höhe und wankte aus dem Zimmer. Ana sollte schlafen und ich auch. Die Ruhezeit bis Schichtbeginn betrug gerade noch zwei Stunden.

Mona saß in der Küche. Als sie mich sah, stand sie auf und kam herüber. »Und?«

Ich wich ihrem Blick aus. »Die Anfälle werden schlimmer. Manchmal habe ich das Gefühl, was immer ich tue, ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.«

Mona deutete auf den Stuhl an dem winzigen Ecktisch in der Küche. »Setz dich.« Sie nahm zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie vor uns hin. »Ich weiß, du gibst dir alle Mühe, Gene, mit deinem Job bei Habermann und Söhne und diesen Frag-nicht-danach-Geschichten draußen in Garching.« Mit dem Wasserkocher ging sie hinüber zur Spüle. »Aber du musst mehr tun, hörst du?« Der Hahn rauschte und quietschte. Sie stellte den vollen Kocher auf seine Bodenplatte zurück und setzte sich zu mir. »Ich will das Café wieder eröffnen. Ben hätte es so gewollt. Und Maman würde es guttun, ab und zu wieder hinter der Theke zu stehen.«

Als sie Ben erwähnte, gab es mir einen Stich. Jedes Mal, wenn wir über ihn sprachen, fürchtete ich, sie könnte mir an den Augen ablesen, was wirklich damals geschehen war. »Du meinst, wir sollen Angie rund um die Uhr anstellen? Ich denke, ich könnte wohl noch einen Tausender mehr im Monat erwirtschaften.« Immerhin hatte ich noch nicht versucht, eine Niere zu verkaufen. Vielleicht wuchs sie ja nach?

Mona nahm meine Hand. »Ich meine damit, dass du in Ordnung bringen musst, was nicht mit dir stimmt.«

Mein Herz setzte zwei Schläge lang aus, nur um dann mit vierfacher Geschwindigkeit loszugaloppieren. »Was?«

»Du konntest mal alles heilen, Gene. Alles.« Sie hielt mir die Linke unter die Nase. Wer es nicht wusste, hätte nicht sagen können, dass die Endgelenke von Ring- und Mittelfinger ein paar Jahre lang gefehlt hatten. Lediglich eine weiße, gezackte Narbe erinnerte daran, dass sie einmal ein Schäferhundsnack gewesen waren. »Was auch immer diese Männer damals getan haben, du musst darüber hinwegkommen. Du musst deine Seele heilen, damit sie Maman heilen kann.«

Ich wich ihrem Blick aus. Mona war viel scharfsinniger als alle, die ich kannte. Dass Telmara ihre Erinnerungen an jene Nacht im Englischen Garten manipuliert hatte, war zu ihrem Schutz geschehen – und zu meinem. Dennoch tat es weh, sie wieder und wieder anzulügen. Nur eines könnte schlimmer sein – ihr die Wahrheit zu sagen. Der Wasserkocher brodelte und rauschte und verschaffte mir etwas Bedenkzeit. Mona gab je einen Teebeutel in die beiden Tassen mit der Aufschrift Mein Tatenvolumen ist aufgebraucht und Ich habe heute keine Verbindung zu meinem E-Lan und übergoss sie mit dem heißen Wasser.

»Mona, hör mal … ich … das ist nicht so einfach, weißt du? Was damals passiert ist …«

Sie stellte die Tasse vor mich hin und setzte sich wieder. »Uns läuft die Zeit davon, Gene.« Müde rieb sie sich über das Gesicht. »Ich wollte dich eigentlich nicht damit belasten, aber du hast es verdient, die Wahrheit zu hören.«

Jedes ihrer Worte fraß ein Loch in mein Herz.

»Mamans Krankheit … sie liegt in der Familie. Ihre Mutter, meine Mamie, hat sich von einer Brücke gestürzt, weil sie es nicht mehr aushielt. Da war sie gerade einmal sechsunddreißig. Und deren Mutter wiederum ist bei einem Exorzismus ums Leben gekommen.« Sie nahm einen Schluck Tee, den Blick in die Ferne gerichtet. »Und ich …«

Bitte nicht, Mona, mein Herz tut schon jetzt so weh.

»Und ich sehe es auch manchmal. Am Rand meines Blickfelds huschen diese Schatten vorbei. Wenn ich müde bin oder unkonzentriert. Ich weiß, dass sie nicht real sind. Noch …«

Ich stand so hastig auf, dass der Stuhl gegen die Heizung polterte. Mit zitternden Händen nahm ich sie in die Arme. »Wir kriegen das hin, hörst du? Wir kriegen das hin.«

Mona berührte mich am Arm. »Danke«, flüsterte sie.


Beitragsbild: Artflow.ai

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