Ich gab Gas. Die Autobahn spulte sich wie ein schwarzes Band vor mir ab.
„Sind wir jetzt verreist?“, fragte Felix mit kleiner Stimme von hinten.
„Ja“, sagte ich. Plötzlich sah ich schlecht, ich blinzelte mir was aus den Augen. „Jetzt sind wir verreist.“Ein ehemaliger Drogendealer, der frisch aus dem Gefängnis kommt. Ein vernachlässigter Junge, der dringend einen Beschützer braucht. Beide verbindet etwas, das Jahre zurückliegt.
Ganz dringend ans Meer – Juri (Susanne) Pavlovic
Um seinem Drogennetzwerk zu entfliehen, fährt Wanja mit Felix ans Meer. Sie finden Unterschlupf auf einem Reiterhof. Doch niemand kann für immer verreist sein, und Wanja muss lernen, Hilfe anzunehmen – nur so kann er die Menschen retten, die er liebt.
Das Meer, an das es Wanja und Felix zieht, ist die Ostsse – eigentlich das falsche, wie Felix findet, bis Wanja ihm erklärt, dass letztlich alle Meere zusammenfließen. An einem lauen Sommerabend in einem Dorf unweit von Groß-Klein-Unter-Stralsen, wo die beiden auf einem Ponyhof Unterschlupf finden, nahm ich dieses Buch zur Hand. Tief in derselben Nacht legte ich es wieder weg – ergriffen, bewegt, voller Gefühle, und – zugegeben – auch sehr müde.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich die vielen Gefühle sortiert hatte, die diese Erzählung bei mir hinterlassen hat. Ich liebe Wanja – recht viel mehr nach meinem Geschmack kann ein Protagonist kaum sein: Er ist außen hart und innen weich, ein bisschen beschränkt, aber fest entschlossen, dass Richtige zu tun. Ein rundum guter Kerl, der im falschen Mileu aufgewachsen und deshalb in eine Abwärtsspirale geraten ist. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, will er es diesmal wirklich richtig machen, aber wie immer kollidieren gute Vorsätze mit der harten Realität und eingefahrene Spuren verlässt man nicht so leicht. Erst die Begegnung mit Felix – und im Verlaufe der Geschichte anderen, bewunderswerten Menschen – zeigt ihm einen Ausweg: Manche Dinge kann man nicht alleine schaffen und es ist keine Schande, um Hilfe zu bitten.
Trotz der positiven Botschaft und dem optimistischen Ende behandelt der Roman harte Themen, beginnend beim Gefängnisaufenthalt des Protagonisten und Drogenmissbrauch über Vernachlässigung von Kindern, Gewalt und Prostitution, die letztgenannten jedoch nur angedeutet. Während sich in meinem Lieblingsgenre – der Fantasy in all ihren Facetten – über „schlimme Dinge“ immer ein Schleier des Nicht-ganz-realen, der anderen Welt, legt – und sei es auch nur eine magisch angehauchte Version der unsrigen – so ist dies eine Geschichte, die sich durchaus so zugetragen haben könnte. Vielleicht irgendwo im Norden Bayerns, wie die Ortsbeschreibungen andeuten, oder irgendwo sonst in der Republik. Das hat es für mich teilweise sehr schwer gemacht, weil besonders Vernachlässigung von Kindern ein Thema ist, das mir (glücklicherweise nicht aus persönlicher Erfahrung) sehr nahe geht.
Am Ende überwog jedoch das Gefühl, an der Seite von Wanja eine wertvolle Erfahrung gemacht zu haben. Juri Pavlovic versteht es, diesem groben Klotz mit einem Herz aus Gold und einem Hirn aus Gummibärchen auf eine bestechende Art Leben einzuhauchen. An zahlreichen Stellen durfte ich herzlich lachen, was die Tränen an anderen Stellen wieder wettgemacht hat.
Ein bewegender Roman und eine absolute Leseempfehlung.
Bild: Cover-auf-Regal-Mockup von mir mithilfe von Covervault.com und https://amrun-verlag.de/produkt/ganz-dringend-ans-meer/