Von verpassten S-Bahnen und fiesen Mitschülerinnen – wo Autor*innen ihre Inspiration finden

Es war ein lauer Junitag, Schulausflug in der zehnten Klasse. Wir hatten gerade das Museum für Verkehr und Technik wieder verlassen, einen Ort, der in der damals ca. 16-jährigen Bess bei jedem Besuch Dutzende Ideen für Szenen und Geschichten entstehen ließ, und sie jedes Mal mit geradezu elektrisierendem Forscherdrang erfüllte. Wir gehen zur S-Bahn-Haltestelle und plötzlich fangen alle zu rennen an, denn da ist sie, unsere Bahn, bereit, in weniger als dreißig Sekunden abzufahren.

Alle sprinten also die Fußgängerbrücke hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, nur Bess nicht. Sie geht gemächlich nach oben und sieht der Bahn nach, wie sie abfährt. Mit gemischten Gefühlen zwar, denn sie hätte sie gerne erreicht, aber mit dem festen Entschluss, niemals einem abfahrenden Zug nachzujagen, wenn der nächste in wenigen Minuten eintrifft.

In diesem Moment jedoch taucht ein aschblondes Mädchen aus dem Nichts neben ihr auf. Nimmt Anlauf und spring von der Brücke auf die S-Bahn, wo sie in Superheldenpose landet und Bess unverwandt in die Augen starrt. Bess sieht ihr nach, fasziniert, elektrisiert, und weiß: Sie muss die Geschichte dieses Mädchens erzählen.

Damit beginnt eine lange, wirklich unglaublich lange Odyssee zu meinem Debütroman, den ich erst geschlagene 21 Jahre später veröffentlichen werde. Warum das so lange gedauert hat? Das ist ein Thema für einen anderen Essay, aber die Quintessenz ist eine Warnung und ein gut gemeinter Rat für alle Schreibenden: Fang niemals unter keinen Umständen deine Schreibkarriere mit deinem Traumprojekt, deiner Lieblingsfigur, deinem Herzenbuch, deinem Seelenwerk an. Niemals. Lass es. Tu’s nicht. Es wird dir entweder das Herz brechen, dich Jahrzehnte deines Lebens kosten oder dich dazu bringen, alles hinzuschmeißen.

Fang mit einem Anthologiebeitrag an, dann schreib eine Kurzgeschichte für ein Magazin und arbeite dich langsam zu einer Novelle für eine Wettbewerb vor. Sobald du zwei, drei solcher Werke tatsächlich veröffentlicht hast, kannst du deinen ersten Roman schreiben. Und sobald du derer zwölf veröffentlicht hast, kannst du dich an deiner Herzensprojekt wagen. Nicht vorher. Vertrau mir. Ehrlich.

Wie auch immer: Hier geht es um die Inspiration und die kommt Autor*innen an den erstaunlichsten Orten. Ich präsentiere euch die lustigsten, spannendsten und schrägsten Situationen und Personenalien aus meinem Leben, die alle auf die eine oder andere Weise ihren Weg in Seelenbande gefunden haben – und zum Teil auch aus einer der 17 Vorgängernversionen (nein, das ist keine Übertreibung und auch kein Tippfehler, ich sagte ja: Jahrzehnte deiner Lebenszeit!) wieder rausgeflogen sind – wie etwa Genes aschblonde Haarfarbe.

Was-wäre-wenn: Die Kernfrage jeder Inspiration

In ihrer ersten Inkarnation war Gene noch einzige Überlebende eines Autounfalls und wurde von einer Magierin adoptiert, die sie zu einer knallharten Assassine ausbildete, die Seelen für eine gewaltige Beschwörung sammeln sollte. Hey, verurteile mich nicht, ich war sechzehn, okay? Soweit ich weiß, sind solche Geschichten heute immer noch bei Sechzehnjährigen beliebt und wie ich schon in meinem Self-Insert-Essay sagte: Leute, macht doch einfach, was ihr Bock habt, lasst euch von niemandem erzählen, was euch Spaß machen darf. Das Leben ist zu kurz, um es mit Dingen zu verschwenden, die erwachsen, künstlerisch wertvoll oder literarisch sind. Außer, das ist deine Marmelade, dann lass sie dir bitte schmecken! Chacune à sa façon, sagen die Franzosen – und die müssen es wissen.

Was wäre wenn? Das ist die Frage, die aus einer Alltagssituation oder auch aus einer außergewöhnlichen entstehen kann und dann in einen Roman weitergesponnen wird. Ein Beispiel dafür finden wir in meinem ersten Romanprojekt, dass noch nicht veröffentlicht wurde und es vielleicht auch nie wird, weil es zu persönlich ist: Die Protagonistin wird aus dem Schulklo heraus in eine magische Fantasywelt ge-Isekai-t und das im Jahr 1996, wo wir alle noch Dragon Ball für Peak Manga hielten und selbst die Japaner noch keine Isekais veröffentlicht hatten. So wurde aus einer traumatischen Angstsituation die Grundlage eines Fantasyepos, an dem ich meine ganze Pubertät durch gearbeitet (und es trotzdem nie fertiggestellt) habe.

Autor*innen denken sich nicht immer alles aus – oft finden sie Dinge. Oder besser gesagt: die Dinge finden sie.


Schmerz: Trauma als Inspirationsquelle

Reinhard Mey sag einst „ich singe um mein Leben. Ich singe, um nicht aufzugeben.“ Jep, so ist das mit dem Schreiben auch. Wann immer ich einen körperlichen oder seelischen Schmerz zu verarbeiten hatte, tat ich das mit Schreiben. Es gibt den Witz unter Schreibenden, dass sie ihre Feinde in ihren Geschichten auf grausame Weise umbringen. Diesen Drang habe ich nie verspürt. Ich wollte nie jemandem schaden. Ich wollte immer eine Heldin sein. Meine Teenagerkollegin im Schreibforum träumte und schrieb davon, als mächtige Hexe die fiesen Mitschülerinnen, die sie bis aufs Blut quälten, unter tonnenschweren Bäumen zu begraben. Ich schrieb von meiner langen abenteuerlichen Reise durch eine Parallelwelt, an deren Ende ich mich heldenhaft für deren Fortbestehen opferte. Damit meine neu gewonnenen Freunde und Gefährten in Frieden weiterleben konnten. Alles, was ich jemals wollte, war geliebt zu werden. Um jeden Preis. Protagonistin Gene ist da in Seelenschulden schon einen Schritt weiter: Sie will einfach nur die retten, die sie liebt, vollkommen egal, ob die sie auch lieben. Denn sie ist fest davon überzeugt, keine Liebe zu verdienen. Ob sie diese Charaktereigenschaft von mir übernommen hat oder ich sie von ihr, lässt sich rückblickend gar nicht mehr so genau sagen. Fakt ist: Unser Trauma prägt unsere Geschichten. Unsere Fragen sind die Fragen unserer Protagonist*innen.

Aber nicht nur das. Genau genommen kann alles eine Inspirationsquelle sein. Ganz besonders gut Gespräche mit interessanten Menschen.

Zwischenmenschliches: Dialoge sind immer noch Inspirationsquelle Nummer Eins

Interessante Menschen sagt sie? Wer soll das sein? Je nachdem, was du für ein Typ bist, denkst du vielleicht, dass es nur sehr wenige wirklich interessante Menschen gibt. Tatsächlich habe ich in meinem ganzen Leben noch nie einen uninteressanten Menschen getroffen. Jedes Piercing, jede Augenbrauenkontur, jeder Tick – Hände kreisen, Räuspern, Mit dem Knie wackeln, Kiefer oder Knöchel knacken lassen, mit dem Finger in der Wange bohren, Haarsträhnen zwirbeln, über den Bart streichen, die Augenbraue hochziehen, und noch tausend weitere – jede Körperform, jeder Kleidungsstil, jede sprachliche Eigenheit, jedes ungewöhnliche Dialektwort, jeder flotte Spruch, einfach alles an einem Menschen hat das Potenzial, in einem meiner künftigen Romane verewigt zu werden. Sind wir uns schon einmal begegnet? Die Chancen stehen gut, dassdu etwas gesagt, getan, getragen, gezeigt oder gedacht hast (bzw. ich dachte, dass du das gedacht hast, denn Gedanken lesen kann ich tatsächlich nicht), das in dieser oder ähnlicher Form in einem meiner Werke Verwendung fand. Ich sehe dich. Und finde dich wunderschön und inspirierend.


Dennoch: Ideen sind nur Schotter in der Einfahrt – es bringt nichts, sie kübelweise ins Büro zu karren

Nun muss ich aber doch ein kleines Wort der Warnung an meine schreibenden Kolleg*innen wenden, einfach, weils mir gerade in den Sinn kommt und aus meiner Sicht ein wichtiges Thema. Ideen sind wie Schotter in der Einfahrt – ich habe leider vergessen, bei welchem amerikanischen Autor ich diesen Satz schon vor Jahrzehnten gelesen habe, aber er ist so wahr. Ideen allein sind nichts wert. Die richtige Idee im richtigen kontext von der richtigen Person auf die richtige Weise ausgearbeitet kann Gold wert sein. Aber fürchte dich bitte nicht vor Ideenklau, niemand erzählt deine Geschichte auf deine Weise und jeder einzelne Kiesel in deiner Einfahrt hat einen Zwilling in jemand anderes Einfahrt, der bereits eine komplette Romanreihe mit sechsundvierzig Bänden daraus gebastelt, veröffentlicht und neunzehn internationale Buchpreise dafür abgeräumt hat. Ideen sind nichts, aber Details sind alles. Also sieh genau hin, beobachte deine Mitmenschen (aber bitte nicht auf die creepy Art!) und mach dir geistige Notizen. Oder noch besser: Mach dir reale Notizen. Denn wenn deine Freundin beim Spazieren gehen beiläufig sagt, dass Drehwuchs bei Bäumen auf Leylinien hindeutet, dann ist das vielleicht für deinen Alltag als wissenschaftsorientierter Mensch nicht relevant, aber was für ein goldwerter Aufhänger für dein nächstes Fantasy-Epos über eine Wetterhexe, die die drohende Hitzeapokalypse verhindern will!


Kurz gesagt: Inspiration ist Übungssache

Je mehr du schreibst, desto mehr siehst du. Die Welt ist ein gigantischer Ideenpool, aber nur, wenn du dich in den kreativen Zustand bringst, in dem du Dinge wahrnimmst. In dem du das aschblonde Mädchen siehst, wie es auf eine S-Bahn springt. Damals war ich überrascht, fasziniert und begeistert. Heute suche ich gezielt diese Momente und halte sie fest. Aber ich gebe ihnen auch Raum, zu mir zu kommen. In dem ich beispielsweise auf der Terrasse sitze und döse. Das hat nichts mit Prokrastinieren zu tun (wirklich nicht), sondern ist ein wichtiger Bestandteil des kreativen Prozesses: Spannung und Entspannung sind gleich wichtig, im Roman wie im wahren Leben – ein permanent gespanntes Gummiband leiert irgendwann aus, ein permanent angespannter Mensch auch, nur dass der im Gegensatz zum Gummiband dann die Krankenkasse vierzehntausend Euro kostet.

Bonus: Inspirationstrickkiste für angehende Autor*innen

Und weil ich nicht gehen kann, ohne dir ein paar handfeste Tipps mitzugeben, hier mein persönlicher Mini-Leitfaden für spontane Eingebungen: Schreib keine Szene, die dich nicht emotional bewegt – wenn du selbst nichts fühlst, tut es deine Leserin auch nicht. Hör bei Gesprächen im Zug zu, aber tu so, als würdest du lesen (meine Lieblingsquelle für Dialoge, ehrlich). Halte IMMER ein Notizbuch bereit. Oder zumindest dein Handy. Inspiration ist ein scheues Reh, das oft nur einen Wimpernschlag lang stehenbleibt. Lies Sachbücher über Dinge, die du eigentlich gar nicht interessant findest – manchmal springt dir da die Idee deines Lebens entgegen. Und vor allem: Erlaube dir, seltsame Gedanken zu denken. Auch die, die du keinem erzählen würdest. Vor allem die. Sie führen dich an Orte, wo deine Geschichten lebendig werden.

Doppelpunkte: Wenn du einmal anfängst, kannst du nicht mehr aufhören

Hat sich halt so ergeben, Mensch! Nächstes Mal werden die Überschriften wieder deeper. Versprochen!

Welche Frage zur Seelenbande-Reihe wolltest du schon immer beantwortet haben? Schreib’s mir und ich beantworte sie im nächsten Essay.

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