31.10.2102

Eine Kurzgeschichte für eine 7-14-7-Übung des Schreibforums. Ich habe mich beeilt, sie hier zu veröffentlichen, bevor alles unten Beschriebene lange vor 2102 Wahrheit wird.


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Liebe Nana,
es ist eine meiner frühesten Erinnerungen: Wir sitzen in eurem Wohnzimmer, ich bin drei oder vier, auf Mamas geliebter Eckcouch. Wahrscheinlich stünde sie noch heute dort, wäre sie nicht dem Hochwasser ’68 zum Opfer gefallen. Mama und Amma hatten extra für dich einen VR-Zugang gebucht, weil – und ich zitiere dich mit Genuss – du dir „lieber die Rosette tätowieren als ein BMI implantieren“ gelassen hättest. Während wir anderen uns die Live-Übertragung auf die Netzhaut projizieren ließen, hattest du dieses ulkige Gerät auf der Nase, für das das Millenialmuseum Neu-Berlin wahrscheinlich ein kleines Vermögen bezahlt hätte. Es beeindruckt mich immer wieder, wie sehr du doch mit deinem Widerstand gegen das Brain-Machine-Interface recht behalten solltest. Wie viel Leid hätten sich Mama und Amma erspart, wenn wir auf dich gehört hätten. Aber das ist eine andere Geschichte. Da saßen wir also und waren so nah dran, als würden wir selbst aus der Fähre steigen und den Fuß auf den roten Staub setzen. Ich weiß noch, wie mir die Luft wegblieb, als Eartha Lockhart die Schleuse zum zentralen Wohnkomplex von Nüwa City öffnete und eine der fünfhundert ersten Siedlerinnen nach der anderen hineintrat. Als Lockhart den Helm abnahm, die gefilterte, erwärmte Marsluft einatmete und in die Kamera lächelte, so voller Hoffnung und Tatendrang, absolut bereit für das größte Abenteuer der Menschheit in diesem Jahrhundert, da hattest du Tränen in den Augen.
So sah er aus, dein Traum, dein größter Wunsch: wie die SpaceY-Pionierin den Helm abnehmen und mit deiner ganzen Hoffnung für eine bessere Zukunft in die Kamera lächeln. Das war 2054, zwei Jahre nach deinem siebzigsten Geburtstag. Ich sehe dich noch wie heute vor mir, das verzückte Lächeln auf den Lippen, während unter dem VR-Headset die Tränen herausliefen.
Seltsam, wie solche Erinnerungen im Alter wiederkommen. Ich bin mir sicher, viele Jahre nicht daran gedacht zu haben. Wahrscheinlich bedeutete es mir damals gar nicht so viel, wie es mir heute erscheint. Erinnerungen sind trügerisch und formbar und seit ’75 weiß sowieso niemand mehr so ganz, was davor real gewesen ist. Ich bin froh, dass du das nicht mehr erleben musstest. Und doch – jede Krise ist immer auch eine Chance. Warst es nicht du, die mich das gelehrt hat? Für mich jedenfalls war der Weg danach so klar, dass er klarer nicht hätte sein können. Ich weiß nicht mehr, wann genau ich deinen Traum zu meinem machte. Ich kann nicht einmal ehrlich sagen, ich hätte es für dich getan. Jedenfalls nicht nur. Wie auch immer, was zählt, ist, dass wir heute hier sind, du und ich. Dort am Horizont, hinter der Betonfabrik, dort liegt sie, meine kleine Heuschreckenfarm. Hättest du das gedacht, dass die Viecher einmal so wichtig für unsere Zukunft werden? Du hast immer mit Stolz behauptet, du wärst die Erste im Dorf gewesen, die den Rügentaler Grillengriller im Supermarkt gekauft hat. Opi hingegen schwor Stein und Bein, du hättest sein Leben lang keine Heuschrecke angefasst. Was auch immer stimmt, hier und heute ernähren die süßen kleinen Plagegeister alle Achttausend Einwohner am Tempe Mensa – und das gar nicht schlecht.
Aber ich schweife schon wieder ab. Vielleicht, weil ich den Moment noch hinauszögern will, weil ich noch nicht bereit bin, Lebewohl zu sagen. So lange schon nehme ich dich auf jeden Ausflug in die Umgebung mit, aber ich glaube, heute ist es soweit. Das ist der Ort. Hier, im dichten Bambusgehölz gleich unter der Wassererwärmungsanlage ist ein guter Ort für einen Abschied.
Nana, du warst in so vieler Hinsicht mein Vorbild und ich bin froh und dankbar für alles, was du mich gelehrt hast – Schnürsenkel binden, Konservativen-Websites trollen, Kartoffeln anbauen… Und auch wenn insbesondere Letzteres mir schon das Leben gerettet hat, so war dein größtes Geschenk an mich der Traum, den du mir hinterlassen hast: am Abend die Projektorfläche abzuschalten, um statt dem Symbolbild eines ausgestorbenen Mischwaldes Phobos und Deimos über dem Horizont aufgehen zu sehen.
Ohne dich wäre ich heute nicht hier. Und auch, wenn du die beiden Monde des Mars nicht mit eigenen Augen sehen kannst, so glaube ich doch, dass deine Seele sich hier wohlfühlen wird. Leb wohl, Nana. Ruhe sanft.
###beende Aufzeichnung
###platziere Datenkapsel
###aktiviere Langzeitspeicherung
###öffne Aschebehälter
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###berechne Rückfahrt

Bild: GooKingSword von Pixabay

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