Kürzlich habe ich mir angewöhnt, morgens einen einstündigen Spaziergang auf dem Feld draußen zu machen, einfach weil es mir guttut. Frische Luft, körperliche Ertüchtigung, weg vom Bildschirm sein, die Ruhe genießen. Natürlich ist diese Ruhe niemals ungetrübt, denn der Feldweg, der parallel zur Isar von der Weindlschweige nach Goben verläuft, ist eine bei Joggenden, Hundebesitzer*innen und landwirtschaftlichen Betrieben beliebte Strecke. Ich bin gerade auf dem Rückweg ungefähr auf Höhe der Tomatenplantage, als ich zum zweiten Mal an diesem Morgen an einem Herrn um die sechzig mit einem etwa dreijährigen und einem etwa fünfjährigen Kind vorbeikomme. „Macht mal Platz, Jungs!“, ruft er.
„Alles gut“, erwidere ich fröhlich bei meinem flotten Überholmanöver, „so breit bin ich nicht.“
Der Dreijährige grinst mich an und sagt: „Da kommt ja die alte Frau wieder“ zu seinem Bruder. Und weil die alte Frau etwas schwerhörig ist, wiederholt er es noch einmal lauter für sie.
Lachend drehe ich mich um und stimme ihm zu. „Ja, genau, da kommt sie wieder, die alte Frau.“
„Das sagt man aber nicht“, erklärt der mutmaßliche Großvater. „Du kannst sagen: Da ist wieder die Frau von vorhin.“
Durch die sanfte Schelte inspiriert, hüpft der Kleine umher und ruft gackernd und kichernd:
„Die alte Frau!
Die alte Frau!
Die alte Frau!“
Während ich versuche, den Abstand zwischen uns zügig zu vergrößern, ohne mit meiner Gehgeschwindigkeit ein Ministry-of-Silly-Walking-würdiges Tempo zu erreichen, frage ich mich, was ich aus diesem Erlebnis machen und wie ich mich dabei fühlen sollte.
Wie immer, wenn mich etwas negativ überrascht, steigen mir Tränen in die Augen.
„Ich bin nicht alt!“, brüllt das innere Kind und stampft mit dem Fuß auf.
Großartig, denke ich, außen grau und faltig, innen stur und bockig.
„Ich bin nicht alt!“ Das innere Kind verschränkt die Arme und sieht mich wuterfüllt an.
„Aus deiner Perspektive vielleicht nicht“, erwidere ich sanft, weil es keinen Sinn hat, sich über die Allüren des sehr kleinen Wesens in einer sehr großen, furchteinflößenden Welt auch noch künstlich aufzuregen.
„Ich bin dreiundvierzig, Herrgott nochmal! Das ist doch nicht alt! Alt ist vielleicht dreiundachtzig!“
Ich schmunzele. „Also jemand, der vierzig Jahre älter ist als du? Dann versetz dich doch mal kurz in den Dreijährigen.“
Das innere Kind stutzt. In seinen Augen stehen Unsicherheit, Furcht. Die große Frage: Ich bin doch nicht alt, oder? Und wenn doch: wann war das passiert? Und warum?
Was bedeutet alt überhaupt?
In meinem Fall bedeutet es graue Haare, Lachfalten um die Augen, zweiundzwanzig wunderschöne Ehejahre, zwei erwachsene Kinder, zehn Buchveröffentlichungen, aber auch die Enttäuschung, nicht annähernd da zu sein, wo ich mich vor dreißig Jahren in diesem Alter wähnte.
Es bedeutet eine gewisse Demut angesichts der Erkenntnis, dass ich noch so viel wissen kann, es würde immer nur ein Bruchteil dessen sein, was ich nicht weiß.
Ich möchte sagen, dass alt bedeutet: erfahren, weise, gereift, auf Erfolgskurs, in den besten Jahren.
Aber das Gefühl, dass sich am stärksten aufdrängt ist:
zu spät.
Du bist jetzt alt. Vergiss deine Träume, du kannst sie nicht mehr erfüllen. Such dir endlich einen Job, hör auf, schwarzen Schwänen hinterher zu jagen. Es ist das Gefühl, mich selbst enttäuscht zu haben.
Ist das fair?
Natürlich nicht.
Aber was ist schon fair auf dieser Welt?
Ich reiße mich zusammen, überquere die Dammstraße und gehen den leichten Anstieg zum Maisfeld hinab. Alt sein bedeutet nicht, dass es für irgendwas zu spät ist.
Zugegeben, ich werde keine Karriere als Profifußballerin mehr starten können oder einen Düsenjet fliegen dürfen. Aber seien wir mal ehrlich, das hatte ich auch mit zwölf nicht auf dem Zettel, dafür war nie die Zeit, folglich kann es dafür auch nicht zu spät sein. Alles, was ich mir erträumt, aber noch nicht erreicht habe hingegen, kann ich nach wie vor schaffen: Japan sehen? Nur eine Frage der Prioritäten. Ein Fallschirmsprung? Zehn Kilo müssen runter, dann steht dem nichts mehr im Wege. Romanautorin sein? Erledigt. Davon leben können? Nicht vollkommen abwegig.
Was bedeutet alt denn nun?
Im Wesentlichen? Gar nichts. Es ist eine Feststellung. Eine subjektive, relationale Feststellung. Aus Sicht des Dreikäsehochs aus dem Nachbardorf bin ich alt, aus Sicht meines pensionierten Kumpels Harald jung. Aus meiner Sicht bin ich einfach ich, nur außen ein bisschen weicher, grauer und faltiger als ich schon mal war. Innen spiele ich immer noch imaginäre AMVs zu meinen Lieblings-Metal-Hits beim Zugfahren ab, außen habe ich Arthrose in den Knien und eine künstliche Linse. Innen bin ich im Wesentlichen dieselbe Person, die ich mit sechzehn war, und die werde ich auch mit achtzig noch sein. Vielleicht bin ich in manchem sanfter geworden, in anderem unnachgiebiger. Gelassener hier, wütender dort. Im Großen und Ganzen jedoch sind Menschen jeden Alters ihr inneres Kind in einer fleischlichen Hülle, die im Spiegel nie ganz so aussieht wie in unserer Erinnerung, und von einem inneren Erwachsenen gerade eben so funktionstüchtig gehalten wird.
„Erwachsen werden“? Nein, danke.
In meinen dreißigern gab es eine Zeit, in der ich unsicher war, wann denn dieses Erwachsen werden eintreten würde, und ob ich mit Erreichen der großen 4 und der 0 meine Pokemon-T-Shirts gegen Batikblusen tauschen und statt einem Strickbeanie einen Strohhut tragen müsste. Das hat mich so beschätftigt, dass ich einen ganzen Roman darüber geschrieben habe. Konfabellationen erzählt die Geschichte einer fast Vierzigjährigen, die in einer Welt, die nicht so enttäuschend unmagisch ist wie die, in der ich lebe, ihre Zauberkräfte entdeckt. Genau wie ich weigert sich Bella, erwachsen zu werden oder sich in eine Schublade stecken zu lassen.
Falls du zu den Menschen gehörst, die das mit dem Erwachsen werden gut hinbekommen haben und dich weder Zweifel an deinem Wert noch an deinem Platz in der Welt plagen, dann gratuliere ich dir sehr herzlich und wünsche dir alles Gute. Wenn du aber wie ich zu den Menschen gehörst, denen die Normen und Rituale der Erwachsenenwelt auch nach fast zweiundzwanzig Jahren oder mehr nicht vertraut sind und lächerlich vorkommen, dann ist Konfabellationen vielleicht ein Roman für dich. Die Leseprobe findest du auf meiner Website.
Ich bin sehr rational und lasse mich nie von meinen Gefühlen übermannen. </sarkasmus>
Der kleine Junge auf dem Feldweg hat mir also unbeabsichtigt ein Geschenk gemacht. Er hat mich daran erinnert, dass alt und jung Fragen der Perspektive sind, dass ich mich entscheiden kann, ob ich mich von einem fremden Urteil definieren lasse oder von meinem eigenen. Dass die Angst vor dem Altern im Grunde die Angst vor verpassten Chancen ist und es an mir selbst liegt, ob ich die Zeit ungenutzt verstreichen lasse oder was aus ihr mache.
Während ich die letzten Meter zu meinem Haus zurücklege, beschließe ich, dass ich eine alte Frau bin. Aber eben meine Version davon: eine, die Metal hört und Pokemon-Shirts trägt, die ihre Träume nicht aufgibt und sich von Dreijährigen nicht aus der Ruhe bringen lässt. Eine alte Frau, die für immer Geschichten schreibt über Menschen, die sich weigern, in Schubladen zu passen.
Und weil ich kein bisschen bitter darüber bin, von einem Kleinkind „alt“ genannt worden zu sein, habe ich auch nicht den restlichen Samstagmorgen damit verbracht, einen Blogbeitrag darüber zu schreiben.
Bild: Jörg Peter auf Pixabay