SOS – Mann über Bord!

Das aktuelle Thema der 7-14-7-Übung des Schreib-Forums ist sprachlicher Rhythmus, genauer gesagt das Abwechseln von kurzen und langen Sätzen. Meine Idee dazu war, einen Text über einen Seenotfall mit dem Muster „dreimal kurz – dreimal lang“ zu verfassen. Also schrieb ich die ersten drei kurzen Sätze:

Die Deckglocke schrillt. „Mann über Bord!“
Ich schrecke hoch.

Doch als ich versuchte, mir die Szene, die sich hier entfalten sollte, vorzustellen, brach all der Schwermut durch die aktuelle Situation in der Welt über mich herein, spülte die dramatische Seenotszene hinfort und erschuf … das hier:


Die Deckglocke schrillt. „Mann über Bord!“
Ich schrecke hoch. Wie konnte so etwas auf einem Kreuzfahrtschiff geschehen, noch dazu bei vollkommen ruhiger See – sicher vertäut im Hafen? Wie alle anderen Passagiere renne ich hinauf auf das Achterdeck, wo sich bereits eine Menschentraube um den ersten Maat gebildet hat. Wild gestikulierend versucht der schnittige, junge Mann sich der ihn bedrängenden Gästinnen zu erwehren, ohne sie allzu sehr zu vergällen – immerhin genießt er zu anderen Zeiten ihre Bewunderung. „Bleiben Sie ruhig! Ich hole Hilfe!“ Er winkt einem Matrosen. „Was stehst du denn hier tatenlos herum, Mann, hast du denn keinen Sinn für eine Notsituation?“
Der Angesprochene bekommt rote Ohren und stammelt etwas von sicherem Hafen, umliegenden Booten, kurzer Entfernung zum Landungssteg und bereits alarmierten Rettungskräften.
„Hast du auch noch etwas anderes zu bieten als fadenscheinige Ausflüchte, um der Besorgnis unserer hochgeschätzten Gäste Rechnung zu tragen?“


„Tut mir leid.“ Der Matrose senkt den Blick. „Ich fürchte nicht.“

Der erste Maat, zufrieden mit der Tatsache, einen Sündenbock gefunden zu haben, plustert sich auf und setzt zu einer weiteren Standpauke an. Bevor es jedoch dazu kommt, meldet sich ein Herr in geblümter Badehose aus der dritten Reihe der Schaulustigen zu Wort. „Verzeihen Sie die Unterbrechung, mein guter erster Maat, aber wäre es nicht an der Zeit, die ins Wasser gefallene Person herauszufischen, bevor sie möglicherweise ertrinkt?“
Der erste Maat räuspert sich. „Selbstverständlich! Ich kümmere mich selbst darum!“
Unter den begeisterten Blicken der alten Damen und begleitet von ihren ermunternden Rufen und Pfiffen entledigt sich der erste Maat seiner Uniform. Bis auf die Unterhose entblößt, ist er gerade damit befasst, seine Socken abzustreifen, als sich die Menge teilt, um einer nahenden Gestalt Platz zu machen. Mit gemächlichem Gang und aufreizendem Hüftschwung nähert sich die Gräfin Andreny; ihr tropfnasses Haar wippt in der tropischen Brise und hinterlässt ein hypnotisierendes Muster auf dem Deck.
„Aber mein lieber erster Maat!“ Sie klimpert mit den Wimpern. „Entblößt vor aller Augen.“
Vom faszinierten Raunen und Gekicher der alten Damen begleitet nähert sie sich dem zunehmend errötenden Seefahrer und bleibt mit kaum einer Haaresbreite Abstand vor ihm stehen. „Das ist absolut bezaubernd von Ihnen, dass Sie zu meiner Rettung eilen wollten, wenn auch ganz und gar überflüssig.“ Sie streckt den Arm aus, woraufhin wie von Zauberhand ein seidener Bademantel durch die Menge herangegeistert kommt – bei genauerer Betrachtung von der Gräfin Zofe herbeigeschafft – und hält das Kleidungsstück dem ersten Maat hin. „Helfen Sie mir?“
„Sicher, gerne!“, stottert er.
War wohl falscher Alarm.

Beitragsbild: fietzfotos auf Pixabay

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